Die Bewunderung des Seins

David Campesino versucht die Welt zu fotografieren und in Filmen festzuhalten wie Jean-Paul Sartre sie einst sah: ungeschönt, poetisch und voller Angst. Von einem der auszog, sich freizumachen.

Da, wo Campesino lebt, leben noch 16 andere Menschen. Die meisten Hausbewohner in seinem vieretagigen Wohnprojekt kommen nicht aus Dresden. Sie sind Reisende, Theaterhospitanten, Kulturnomaden. In ihrer geräumigen Küche steht eine ganze Wand voller Kühlschränke, an einer anderen hängen locker zehn Pfannen. Gemeinschaft ist hier nicht Pflicht, aber sie ist spürbar. Drei Etagen weiter oben sitzt Campesino in seinem Dachzimmer und trinkt einen Kräutertee. Den Teebeutel legt er auf den Tisch, direkt neben einige seiner Fotos. Als ob ihm egal ist, wenn seine Arbeit zerstört wird. Er zeigt auf die Postkarte zu einer früheren Ausstellung namens „Shame“. Darauf ein Junge im Regen, der verloren in die Ferne schaut, mit einer hochgeschobenen Faschingsmaske auf dem Kopf. „Ich suche ein merkwürdiges Gefühl und dann drücke ich ab.“ Campesino wirkt selbst manchmal ein bisschen verloren. Jetzt schaut er aus dem Fenster, auf die riesigen Kräne hinter seinem Haus. Hier entstehen Luxuswohnungen, droht das Bauschild. Aber Campesino liebt den Dresdner Stadtteil Neustadt, für ihn ist er immer noch jener lebendige Ort, in den er 2005 gezogen ist. Die Bewohner überzeugen ihn sofort, weil sie ihm hier offen entgegentreten und ein Interesse an Kunst-, Kultur- und am Tagesgeschehen haben. Das hat er lange vermisst.

David Campesino sagt, er ist ein Kulturflüchtling. Ein freiwilliger Auswanderer. Seine Kindheit verbringt er in Valladolid, einer kleinen Großstadt in Nordspanien. Christoph Columbus stirbt hier 1506, Friedrich Schillers „Don Karlos“ erblickt 1545 in Valladolid das Licht der Welt. Die Stadt atmet Geschichte, jedoch wenig Zukunft, als Campesino 1979 geboren wird. Vier Jahre zuvor weint seine Oma bitterlich, weil General Franco gestorben ist. Der Diktator bleibt für viele ihrer Generation eine Art Messias, seine Eltern wachsen in diese halbreligiöse Verehrung der Strenge hinein. Trotzdem wird seine Mutter mit 18 schwanger, fliegt von der Nonnenschule und zieht mit seinem 19-jährigen Vater ins Zigeunerviertel der Stadt. Campesino verlebt dort eine glückliche Kindheit. Beide Eltern arbeiten im Krankenhaus, sie in der Blutanalyse, er in der Verwaltung. Campesino verbringt dort viel Zeit, liebt den Geruch und bewundert die Ärzte für ihre Fähigkeit, die Patienten zum Lachen zu bringen. Mit zehn Jahren schaut er David Lynchs verstörendes Werk „Blue Velvet“ oder Science-Fiction-Filme wie „Blade Runner“ und „Solaris“. Er schreibt über die Handlung der Filme, weil sein Vater ihm nur deshalb erlaubt, sie zu sehen. „Wir haben gelesen, philosophiert, sind ins Theater gegangen“, sagt Campesino über ihn. „Er hat mir kritisches Denken beigebracht. Meine Mutter die Liebe für Details und gut gemachte Sachen.“ Seine jungen Eltern sind fasziniert von der internationalen Kultur, die wie ein Tsunami über Spanien hereinbricht. Sie in dessen Folge sie sich für eine offene Gesellschaft einsetzen.

Im Gegensatz zum Elternhaus unterdrücken seine katholischen Lehrer jeden Individualismus bei ihren Schülern. Katholischen Faschismus nennt das Campesino. Die Überreste der Diktatur in den Köpfen der Alten. Er wird in der Schule nicht motiviert, ein selbständig denkender Mensch zu werden, sondern bedroht, weil er ein Bild von Che Guevara in seinem Schulordner aufbewahrt. Er stellt zu viele Fragen. „Es war nicht gut anders zu sein, alle sagten: Guck mal, wie der aussieht, mit dem Hütchen.“ Später wird er von Nazis verprügelt. Doch er lernt, irgendwie auf sich selbst zu vertrauen. Er fährt mit 15 öfter allein nach Madrid, um ins Museum zu gehen. Er macht Fotos von allem möglichen, vor allem von Menschen. Mit 18 arbeitet er mit Behinderten, mit Immigrantenkindern und im Altersheim. Die Alten sagen ihm: David, arbeite nicht zu viel, reise, liebe, tue Dinge. Er hat Glück, dass die Wehrpflicht just in dem Moment abgeschafft wird, da er den Dienst antreten soll. Doch was soll er jetzt machen? „Das mit der Kunst konnte ich mir nicht erträumen. Filme machten doch nur die Kinder reicher Leute. Meine Eltern wollten immer, dass ich studiere, ich sollte Arzt werden. Ich musste der Beste sein, wurde immer gefragt, wie viele Einsen ich hatte.“ Dieses anerzogene Konkurrenzverhalten merkt man ihm heute nicht mehr an. Höchstens beim Schach- oder Fußballspielen. Er lacht wieder kurz. Die Physikprüfung verhaut er, jedenfalls so, dass es nicht fürs Medizinstudium reicht. Vielleicht hat er es unterbewusst gesteuert. Es ist sein erster Schritt in die Freiheit, weg von den Erwartungen seiner Familie.

Er studiert Forstingenieurwissenschaften. „Ich liebe die Natur, ich mag Menschen, ich möchte etwas in der Welt bewirken, also mache ich was mit der Umwelt.“ So seine Logik damals. Doch mit 23 will er weg von Zuhause, will endlich die Welt sehen. Er entscheidet sich für Deutschland, das Land der Philosophen, die er gelesen hat: Hesse, Schopenhauer, Nietzsche. Und landet in Schwedt, einer großen Kleinstadt in der brandenburgischen Uckermark. Diese Geschichte hat er vermutlich schon oft erzählt, so anschaulich, wie er sie präsentiert. „Ich wollte meinen Freiwilligendienst absolvieren, in einem Kindergarten im reichen Deutschland. Doch als ich in Schwedt ankam war es Winter, es war dunkel, kalt und die Stadt voller Armut – kultureller, seelischer und Glücksarmut.“ Das sagt er wirklich. Glücksarmut. Er ist gelandet an einem Ort, der sich für ihn anfühlt, „als wäre eine ganze Stadt aus grauem Pappkarton“. Trotzdem mag er seinen Job dort sehr. Er arbeitet mit „jungen, unvoreingenommenen, glücklichen Wesen“. Am letzten Tag singen sie ihm sein deutsches Lieblingslied, „Oma auf dem Regenbogen“. Er muss weinen, weil er ahnt, was aus ihnen wird, wenn sie erwachsen werden. Am Ende des Jahres spricht er ziemlich gut Deutsch und hat eine Freundin, die mit ihren Eltern auf einem Hausboot lebt. Er reist viel, kehrt kurz nach Spanien zurück und kommt für ein Praktikum wieder nach Schwedt. Als er dort die Wasserpumpen nach Form und Farben sortiert, merkt er, das rein Technische ist nichts für ihn.

Trotzdem macht er seinen Master in „Hydro Science and Engineering“ an der Technischen Universität in Dresden. Nun endlich Deutschland mit Kultur. Er studiert und arbeitet nebenbei in einer Softwarefirma. Zum ersten Mal verdient er jetzt Geld. Da er aber weiter so sparsam lebt wie bisher hat er nach einem Jahr 8000 Euro übrig. Davon kauft er sich seine erste Kamera, mit Stativ und Mikrofon. „Meinen ersten Film drehte ich über einen Flaschensammler. Sehr poetisch war der, ein bisschen naiv vielleicht auch.“ Der Kurzfilm wurde rückwärts abgespielt, so dass am Ende der Flaschensammler das Bier an die Herumsitzenden verteilt. Es hat sich etwas geändert, nach diesem Film. Für ihn. Er hat noch einmal neu sehen gelernt. Das hat er beim Fotografieren schon einmal erlebt. Auch heute läuft er manchmal eine ganze Weile mit der Kamera im Anschlag durch die Straßen. Ohne Ziel. Es ist wie Meditation, sagt er. „Ich fotografiere keine Objekte oder Menschen, sondern etwas, das man sonst nicht sehen kann. Momente, in denen alles wirklich wahr ist.“ Er erzählt von dieser Suche nach Wahrheit und im gleichen Satz davon, dass alles gelogen ist. „Ich hab einmal eine Serie aus zwölf Fotos gemacht, die sich alle ähneln in ihrer Stimmung. Sie sind aber in unterschiedlichen Städten, Ländern und Jahren entstanden, haben also nichts miteinander zu tun.“ Gedächtnis einer Fiktion nennt er diese Bilder. Für ihn zeigen sie eine ganz bestimmte Wahrheit, die noch echter ist als die Realität der einzelnen Aufnahmen.

In seiner Heimat ist Campesino gerade das erste Mal in einer staatlichen Ausstellung vertreten. Mit einer Videoinstallation, in der auf zwei Monitoren Großvater und Enkelin versuchen, den schwierigen Weg zueinander zu finden. Er hat einige poetische Kurzfilme gedreht. Meistens Kunstfilme. Oder Musikvideos, wenn ihm die Musiker absolute künstlerische Freiheit lassen. Er ist einer von acht Organisatoren eines Neustädter Projektraums und dort zuständig für alles, was mit Film und Fotografie zu tun hat. Und dann ist da ja noch die Sache mit Anna Mateur. Für die Entertainerin (angeblich Dresdens lustigste Person nach Olaf Schubert) gibt er den „Quotenspanier“, seitdem sie eine monatliche Show namens „Büro für Ordnung und Chaos“ in der Neustadt veranstaltet, die irgendwas zwischen Talkshow, dadaistischer Gesellschaftsanalyse und Impro-Theater ist. Er sitzt dann mit seinem Laptop auf der Bühne, spielt ab und zu selbstproduzierte Filme ein und zeigt dem Publikum Showdetails durch seine Kamera. Er ist definitiv die Ruhe im Chaos. Neben einer raumfüllenden Person wie Anna Mateur kann man keine Rolle spielen, sagt Campesino. Neben ihr muss er David Campesino sein, eine Rolle, für die er schon eine Weile trainiert. „Seitdem ich in Deutschland bin, habe ich versucht, mich von allem Oberflächlichen zu befreien. Ich wollte mich entidentifizieren.“ So wurde er sein Land, seine Religion, seine spanische Fußballmannschaft und irgendwie auch sein Geschlecht los. „Ich behaupte nicht, dass ich ein Mann bin. Ich bin männlich geboren, ja, aber ich versuche ein Mensch zu werden.“

David Campesino ist froh, dass sich die deutsche Gesellschaft gerade wieder etwas politisiert. Auch, wenn manche in eine fragwürdige Richtung gehen. Er hört sich gern andere Meinungen an. Er diskutiert mit den Menschen, die sagen: Wir wollen nicht noch mehr Ausländer und Flüchtlinge in Dresden. „Die Menschen, die bei Pegida mitlaufen, sind gar nicht so anders als ich. Sie haben nur nicht die Möglichkeit gehabt, einen Freiwilligendienst in, sagen wir, Spanien zu machen, weil man sie nicht motiviert hat. Im Grunde haben sie genauso viel Angst wie ich. Sie versuchen, sich an irgendetwas festzuhalten – an einer Flagge, einer Identität – weil sie mit sich selber nicht klarkommen, genau, wie alle anderen.“ Es ist dieses ehrliche Mitgefühl für andere, das man auch in seinen Filmen und Fotos sieht, die oft voller Freude und zugleich voller Schmerzen sind. Er findet, es gibt nur zwei Arten von Menschen: die, die zugeben, dass sie Angst haben und die, die es nicht zugeben. „Angst ist eine Konsequenz von Denken und Fühlen. Über meine Kunst teile ich meine Angst mit anderen. Am Ende meines Lebens will ich sagen können: Das war großartig!“ Jetzt ist er 35, wenn er morgen sterben würde, was würde er da sagen? „Schade, ich habe den Film noch nicht fertig geschnitten.“ Aber es gibt Tage, nach einem Film oder einer Ausstellung, an denen er sagt: „Jetzt könnte ich sterben.“

Foto Amac Garbe

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert