Gut gebräunt am Eisvogelteich
Eine Kindheit prägt ein ganzen Leben. Wer in Freikörperkultur aufgewachsen ist, der trägt die beste Rüstung für die Zukunft.
Eisvögel, so sagte mal irgendwer zu mir, brüten am liebsten in steiler Hanglage. Der Hang da am anderen Ufer ist zwar klein, sicher nicht mal einen Meter hoch, fällt aber nahezu lotrecht ins Wasser ab. Und die Wurzel, die sich seit meinen frühesten Erinnerungen an dieses Mini-Steilufer klammert, tut so, als wollte sie unbedingt verhindern, dass die dazugehörige Trauerweide im Tümpel unter ihr baden gehen muss. Dabei wollen das alle, die hier herkommen. Ich stehe auf einer kleinen Treppe zum Wasser, im Epizentrum des FKK-Vereins meiner Kindheit. Ich bin als teilnehmende Beobachterin unterwegs, gut getarnt als Nackte unter Nackten, denke ich, verrate mich aber schnell durch Hautfarbe und Alter. Der Standard ist hier dunkel bis dunkelrot gebräunt und die Profession heißt Rentner.
Den Vielleicht-Eisvogel stört meine Andersartigkeit nicht und ich beschließe, ihn als Zeichen zu verstehen. Denn schließlich versuche ich eine Theorie vom Stadtplanungsexperten Olaf Schubert zu überprüfen, der in einem sehr lustigen Fernsehbeitrag erklärte, die Natur hole sich Städte wie die, aus der ich komme, schon bald zurück. Als geeigneten Ort für meine Studien erkor ich dieses Naherholungsgebiet, ein Feldexperiment zwischen Mensch und Natur, in ein eichenreiches Waldgebiet eingebettet, das quasi direkt hinter der Innenstadt beginnt.
Ich schaue mich um. Das Gelände hat sich über die Jahre kaum verändert. Hier hat sich die Natur bereits früh so viel zurückgeholt, dass ich schon als 5-Jährige über von der Sonne verbrannte Wiesen zum Wasserloch rannte, immer auf die Gefahr hin, auf eine Biene oder Wespe zu treten, was eben dazu gehörte und was, wenn sie mal wieder zugestochen hatten, mit einem Stück Würfelzucker geheilt wurde, weil mit dem Würfel eben so lange kreisförmig auf dem Einstich herumgerieben wurde, bis der Schmerz nachließ. Wenn das Westpaket noch nicht ganz aufgebraucht war, rieben meine Eltern auch mal mit einem Stück Zucker in Herz-, Pik-, Kreuz- oder Karoform darauf herum.
Als der Westen dann auf einmal auch im Osten war, verwandelten sich die bräunlich-gelben Zelte unserer Nachbarn in verschieden stark bemooste Exemplare des mehr oder weniger gleichen Wohnmobils. Immer gleich war auch, dass es nur zweimal im Jahr bewegt wurde, einmal beim Auf- und einmal beim Abbau der Übersommerungsanlage, und damit eher eine Immobilie war. Auf ein Dach überm wasserdichten Immobil wollten die wenigsten Bewohner verzichten, genau so wenig wie auf einen individuellen Vorgarten. Sehr beliebt waren – wie überall, wo der Mensch nach Halt strebt – Figuren, Lichterketten und Windfangelemente. So wurde der Weg zum Teich in den Jahren meines Heranwachsens zu einem immer glamouröseren Laufsteg, auf dem man gelegentlich anhalten, “Guten Tag” sagen und eine Wetterprognose abgeben musste. Denn wer nackt ist und den Gezeiten schutzlos ausgeliefert, der will wissen, ob er sich in einer halben Stunde vielleicht ein T-Shirt überziehen und damit das Konzept von der nahtlosen Bräune an die neuen Bedingungen anpassen muss.
Mit Anfang zwanzig konnte ich beim inoffiziellen Wettbräunen noch ganz gut mithalten. Einmal sorgte ich nach einem viermonatigen Winteraufenthalt auf den Malediven sogar dafür, dass ich schon im Frühling nackt einen inversen Bikini trug. Streifen galten allerdings als etwas Anrüchiges, es gab hier keine Tätigkeit, die man nicht auch nackt erledigen konnte. Ganz anders war es auf meiner tropischen Insel, die in großen Teilen von Muslimen bewirtschaftet wurde. Aber auch sie mussten lernen, dass europäische Frauen gerne oben ohne übers Innenriff schnorchelten, was selbst ich mit meiner frühkindlichen Prägung als unpassend empfand. Allerdings hatte ich auch mehr Zeit für meine Bräunung, ich war ja nicht auf zwei- oder dreiwöchiger Erholungsreise hier. Monatelang empfing ich überwältigte Ankommende, stets mit frisch gezupfter Lotusblume im Haar und gerollten Waschlappen in den Händen und ich verabschiedete sie gelegentlich mit Tränen in den Augen und gerollten Geldscheinen in den Händen. Es war das Geld, das sie im All-Inclusive-Paradies nicht restlos auszugeben vermochten. Ich lebte von den Spenden der Schönen und Reichen. Denn für meine Arbeit bezahlt wurde ich zu einer Zeit, als der Euro noch kein Bar-, sondern erst einmal nur Bankgeld war. 500 Euro wurden monatlich auf mein Konto überwiesen und für 500 Euro arbeitete ich sieben Tage in der Woche, manchmal 20 Stunden am Tag. Eine 100-jährige Leni Riefenstahl, selber durch und durch drahtig, riet mir, ich solle mal unbedingt mehr essen. Anders als meine, wurden ihre “Impressionen unter Wasser” ein Jahr später veröffentlicht, obwohl keiner der Taucher sie während ihres Aufenthalt ans Außenriff begleiten wollte, aus Angst, sie würde die 30 Meter vom Boden nicht mehr nach oben schaffen.
Mit Wasser kenne ich mich gut aus, nicht nur, wegen des Tümpels in meiner Kindheit. Meine Eltern leben in einem Stadtteil, mit dem die Natur schon lange liebäugelt und der uns in den wasserreichen Monaten meiner Kindheit die Elbe in den Keller drückte, so dass wir nachts mit Eimer und Scheuerlappen in der Wohnung meiner Oma baden gehen konnten. Unser Einfamilienhaus stand in einer Arbeitersiedlungsreihe, von Walter Gropius erdacht, und war vergleichsweise sparsam verziert, wurde allerdings mit den vereinigten Deutschlandjahren immer bunter. Vom Flachdach aus hätte ich den knapp sieben Kilometer entfernten Eisvogelteich sehen können, wäre nicht die Innenstadt im Weg gewesen oder einfach nur ein paar hohe Pappeln oder Platanen.
Irgendwann reichte das gelegentliche Wegsein nicht mehr und ich zog in eine größere Stadt. Im Rucksack hatte ich die Zulassung zum Studium zweier Geisteswissenschaften. Die Körperwissenschaften glaubte ich zu diesem Zeitpunkt schon gut vorangeschritten, half aber sicherheitshalber noch einmal beim Uferbewähren unserer gerade vom “Jahrhundert-Hochwasser” überfluteten Elbkurve. Ich saß viel auf Sandsäcken, manchmal auch auf offenen Armeewägen und cremte sonnenverbrannte Rücken ein, von Menschen, die tagelang Sandsäcke stapelten, in der Hoffnung, dass sich die Natur nicht gerade jetzt auch noch den Rest der Stadt zurückerobern wollte. Der Sandberg hielt, die Stimmung auch – noch im Herbst erfüllte ein seltsames Gefühl von Zusammenhalt unser Stadtviertel. Ich ging trotzdem. Ironischerweise wollte die Natur auch mein neues Großstadt-Zuhause zurück und hatte dabei sogar deutlich mehr Erfolg. Doch hier rührte ich keinen Finger. Na gut, einen schon, denn ich schoss viele künstlerisch engagierte Fotos von Wasserläufen, wo eigentlich Straßen sein sollten, und wo nun bis zur Hüfte überflutete Vorfahrts- oder Stoppzeichen ins Leere regulierten.
Während ich in meinen Uni-Jahren die Blässe zum neuen Ideal erhob – weniger aus Überzeugung, denn aus dem Umstand heraus, keinen Badesee in der Nähe zu wissen – wurden die Menschen in meiner alten Heimat immer brauner. Auch meine Eltern wurden eigentlich im Winter nie mehr so richtig hellhäutig und auch sie bauten schließlich eine Dachkonstruktion über ihr Immobil: damit der Regen besser abläuft und nicht, um Gottes Willen!, direkt am Wohnwagen abtropfte. Hießen die Freizeitbeschäftigungen früher Volleyball, Tischtennis oder Bogenschießen, so war jetzt Nordic Walking, Petanque (eine Variante von Boule), und Rückenschule der heiße Scheiß. Damals hangelten sich nackte Jungs und Mädchen beim Neptunfest an einer Seilwinde über ein Drahtseil zur Mitte des Teiches und ließen sich ins Wasser plumpsen, heute ist es schon Sport, wenn man einen jungen Menschen auf dem Gebiet erspähen kann.
Nur noch alte Leute hier, urteilt selbst meine auch nicht mehr junge Mutter am Telefon. Es gibt da aber eine Familie mit zwei kleinen Kindern, sagt sie noch. Neuankömmlinge unter 60 sind im Freikörperpark jetzt ein Ereignis. Ich stelle mir vor, wie diese Kinder über den hoffnungslos verzierten Laufsteg zum Teich rennen, über jetzt bienenlose Wiesen und unter mittlerweile vom Prozessionsspinner befallenen Eichen hindurch. Aber Moment! Kämpft hier die Natur mit sich selbst, weil ihr in meiner Heimat die Gegner ausgehen? Nun ja, dem Eisvogel – jetzt bin ich mir ganz sicher, dass es einer war – dem würde es bestimmt gefallen, wenn die alten Menschen seinen Teich endgültig in Ruhe ließen. Dabei haben die zwei einiges gemeinsam: beide sind standorttreu, tagaktiv und sitzen oft lange Zeit still. Und beide sind vom Aussterben bedroht, was weder beim Vogel noch beim Mensch zu sichtbaren Verhaltensänderungen führt.
(Das Foto wurde von der Mutter aufgenommen, es zeigt den Vater in Action und eins der Kinder, das nicht die Autorin ist.)
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