Sex im Dunkeln – Das „Kamasutra für Blinde“

In der Ecke steht eine Stoffgiraffe. Die Hörner auf ihrem Kopf biegen sich unter der Zimmerdecke, so riesig ist sie. In ihrem Gehege, einem mit bunten Möbeln eingerichteten Wohnzimmer im Süden Leipzigs, leben auch einige Nashörner. Jacqueline und Maurice Schönefeld lieben Afrika. Das Afrika, das sie sich vorstellen. Das echte haben sie nie gesehen, denn beide sind blind. Die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB) stellt für Menschen wie die Schönefelds seit vielen Jahren ganz spezielle Bücher her. Seit 2011 ist dort auch die indische Liebesfibel „Kamasutra“ zu haben. Mit Sexstellungen zum Ertasten. Die beiden wollten testen, ob das funktioniert.

Jetzt sitzen sie in ihrem Wohnzimmer, das hell ausgeleuchtet ist wie die Savanne um zwölf Uhr mittags, und reden erst einmal darüber, wie es ist, die Welt aus den Augen zu verlieren. Jacqueline Schönefelds Augen zucken dabei gelegentlich hinter der verspiegelten Brille. Mit Anfang 20 löste sich bei ihr durch zu hohen Innendruck die Netzhaut ab. Zwei Jahre dauerte das, am Ende wartete die Dunkelheit. Seitdem lebt sie ihr zweites Leben, sagt sie, mit der Erinnerung an Dinge und Farben. Die Schüssel in der Küche ist für sie orange, auch wenn sie grün ist, ihre subjektiven Definitionen führen manchmal zu Missverständnissen mit sehenden Gästen.

Auch ihr Mann hat schon ein erstes Leben hinter sich. Ein Hirntumor, der auf den Sehnerv drückte, wurde zu spät entdeckt. Mit 24 erlosch sein linkes Auge und auch das Ohr daneben funktionierte bald nicht mehr. Es war ein harter Kampf, sagt er, lange tat er sich schwer mit der drohenden Einschränkung. Er war Soldat, er wollte funktionieren. Der Tumor ist nicht nachgewachsen, immerhin, und mit dem rechten Auge kann er heute noch Umrisse erkennen, mit einer Lupe. „Aber nicht mit so einer eleganten, kleinen Sherlock-Holmes-Lupe“, wirft er ein, „sondern mit einer handtellergroßen“. Sein Smartphone hat so eine Lupenfunktion. Es dauert eine kleine Ewigkeit, aber am Ende liest er vor, was auf seinem Handy steht.

Er ist 39 Jahre alt, sie 49. Sie ist schick, er ist sportlich. Sehende sehen zwei Menschen, die sehr verschieden aussehen. Vor zwölf Jahren sind sie sich zum ersten Mal begegnet, bei einer Ausstellung namens „Dialog im Dunkeln“. Ein paar Monate später trafen sich die beiden in einer Bar beim Kaffeeholen wieder. In der Zwischenzeit hatte sich Jacqueline von ihrem Lebenspartner getrennt. Plötzlich nahm sie den jüngeren Maurice ganz anders wahr, mit seiner guten Laune, der sympathischen Stimme und seinem angenehmen Geruch. Vor allem aber war er nicht zu dick, das hat sie schon bei der ersten Umarmung gemerkt. »Es war Liebe auf den ersten Griff«, sagt sie und lacht. Sie heirateten keine zwei Jahre später, seitdem ist sie Frau Schönefeld – „wie der Katastrophen-Flughafen“.

Frau Schönefeld erzählt ruhig und überlegt, während es ihrem Mann Freude bereiten zu scheint, dazwischen zu funken, um das Gespräch aufzulockern. Die Giraffe schaut unbeeindruckt. Irgendwann holt Jacqueline Schönefeld das „Kamasutra“, legt es auf den Tisch und blättert noch einmal darin herum. Zwischen fast laptopgroßen roten Leinendeckeln stecken die 21 erotischen Reliefs. Transparent, wie in Plastik gegossen sehen sie aus, und darunter das, was sie darstellen, als einfach gehaltene Schwarzweißgrafiken auf elfenbeinfarbenem Papier. „Umgekehrte Schubkarre“ oder die „Begegnung mit einer Kuh“. Eine Art Best-Of aus den „Versen des Verlangens“. 100er Auflage. 98 Euro. Das Buch wird von der DZB nicht verliehen, sondern nur verkauft. Trotzdem ist die erste Auflage längst vergriffen.

Schönefelds haben es getestet, also, sie haben es zumindest versucht. Doch es hatte seine Tücken. „Ich bin kein guter Relief-Taster, weil ich das, was ich erfahre, nicht mit der Wirklichkeit in meinem Kopf übereinbringe“, sagt Jacqueline Schönefeld. Sie kennt das Buch, hat es gesehen, damals, in ihrem ersten Leben. Deshalb reichte sie beim Testen das Buch zu ihrem Mann herüber und sagte: „Kannst du mir mal zeigen, wo hier der Kopf und wo die Füße sind?“ Die Texte in Braille-Schrift, die neben den Reliefs stehen, erklärten ihr, was sie da eben in den Fingern hatte. „Wir Blinden sind nicht einer wie der andere“, erklärt sie. „Mir hat dieses Buch nichts genützt, aber warum sollten nicht andere was davon haben? Ich mag die Idee sehr.“ Maurice Schönefeld, der zwar wusste, wo in den Reliefs der Kopf und wo die Füße waren, fügt hinzu: „Ich hole mir meine sexuellen Anregungen lieber aus der Praxis. Für die Stellungen im Buch bin ich eh nicht gelenkig genug.“

Beide haben, als sie noch sehen konnten, bereits sexuelle Erfahrungen gemacht. Das hilft ihnen heute beim Anregen lassen. Wenn sie einen Pornofilm gucken, hören sie das Gestöhne und wissen, was gerade abgeht. Aber tatsächlich haben sie sogar einen kleinen Vorteil. „Wir haben Vorstellungen und träumen uns unseren Partner zurecht“, sagt Jacqueline Schönfeld. „So machen es ja auch die, die nicht blind sind. Manche verbinden sich gleich beim Sex die Augen.“ Ihr Mann, den sie nie gesehen hat und der also das Glück hat, genau der zu sein, den sie haben möchte, fällt ihr wieder ins Wort: „Man kriegt am nächsten Morgen, wenn die Sonne ins Fenster scheint, keinen Schreck. Das Licht bleibt eben immer aus.“

 

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