Hotel Charascho — Happy End auf freier Strecke

Als Hotel machte es nicht viel her. Das schmucklose, zweigeschossige Haus war eine Zweckunterkunft für Monteure, die in der Woche günstig übernachten wollten. Grün-gemustertes Mobiliar, grüne Teppiche, organefarbene Vorhänge an der Rezeption  ̶  alles sieht noch aus wie vorher. Aber jetzt stehen Kinderwägen im Empfangsbereich und überall kleben Info-Zettel. Ende 2012 wurde das Hotel „Stadt Dresden“ im sächsischen Großenhain zu einem Asylbewerberheim umfunktioniert. Bis jetzt leben dort 29 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Indien, Tschetschenien oder Serbien. 50 sollen es einmal werden.

Auf dem Gang ist es vormittags noch ganz ruhig. Nur hinter einer Tür hört man Wasserrauschen und das Wimmern eines Kleinkinds. An den langen Korridorwänden hängt die Hausordnung in mehreren Sprachen. Eine Familie aus Indien läuft den Gang entlang. Der Vater erzählt, dass sie gerade erst aus Coswig hierher gebracht wurden. Im dortigen Heim hätten sie sich ein Jahr lang mit zwei Familien ein Zimmer teilen müssen. Hier haben sie sogar ein Extrazimmer für ihre Tochter. Laut den sich wiederholenden Namensschildern an den Türen trifft das auf einige der hier lebenden Asylbewerber zu. Ein bisschen Raum fürs Leben in der Warteschleife.

Ein Blick ins Zimmer verrät nicht viel von ihrem Leben, es sieht aus wie bei einem Reisenden mit zu viel Gepäck. Gut ist es hier, sagt der Mann. Nur auf den Internetanschluss warte er noch, denn dann könne er endlich wieder indische Filme sehen. Das Deutsch, dass sich der Familienvater innerhalb eines Jahres aus Büchern beigebracht hat, ist ziemlich gut. Er ist jung, vielleicht 35 Jahre alt. Pro Monat bekommen er und seine Frau jeweils 283 Euro ausgezahlt, ihr Kind bekommt 194 Euro. 760 Euro sind nicht wenig Geld, wenn man die Unterkunft gestellt bekommt. Aber Selbstwertgefühl gibt es nicht. Er habe in seiner Heimat in der Agrarwirtschaft gearbeitet. Warum er geflüchtet ist, darauf gibt er keine Antwort. Was er hier machen wolle, auch darauf weiß er nichts zu sagen. Er weiß ja noch nicht einmal, ob seine Familie bleiben kann.

In Dresden gehen die Menschen am 13. Februar auf die Straße, um zu zeigen, dass sie gegen Rassismus und für ein friedliches Miteinander sind. Während es in der sächsischen Landeshauptstadt an diesem Tag vor allem um die Vermeidung falscher Eindrücke und um Symbolkraft geht, geht es in der Großen Kreisstadt Großenhain um angewendete Toleranz und Nächstenliebe. Dabei kommt es offensichtlich auch darauf an, wie gut die Bürger in die Debatte einbezogen werden. Die Linke-Landtagsabgeordnete Kerstin Lauterbach schrieb an jenem Tag, als die Bürger aus der Zeitung erfuhren, dass ihre Stadt Asylbewerber aufnehmen wird, einen Eintrag auf dem Blog ihrer Partei. „Solange es auf der Welt Kriege, Hungersnot, mangelnde medizinische Betreuung und Ungerechtigkeit gibt, wird es Flüchtlinge geben. (…) Es ist für jeden humanistisch denkenden Menschen eine Selbstverständlichkeit, dass diesen Menschen Asyl geboten wird. Ohne Vorurteile. Was wir Großenhainer daraus machen, liegt natürlich an den Flüchtlingen, die in unsere Stadt kommen, aber auch an uns selbst.“

An den Kommentaren darunter ließ sich ganz gut ablesen, wie unterschiedlich die Meinungen dazu ausfielen. Einige wollten davon nichts wissen, hatten Angst um ihre Kinder und ihr Hab und Gut. Andere beschwichtigten, es sei ihre Pflicht zu helfen, man wisse ja auch noch gar nicht, was letztlich für Ausländer kämen. Doch ein Argument, das hörte man immer wieder. Dass niemand gefragt wurde, weder ob noch wo das Asylbewerberheim entstehen sollte. Da haben Stadt und Bürger etwas gemeinsam.

Denn entschieden hat dies das Landratsamt Meißen, das wiederrum von der Landesdirektion Sachsen in Chemnitz koordiniert wurde, die dem Sächsischen Staatsministerium für Inneres unterstellt ist. Jeder will nur ausgeführt haben, was von oben delegiert wurde. Laut Statistik wollen Ausländer gar nicht so gern in den Osten, da wenige Angehörige dort leben und die Probleme mit Rassismus dort größer sind. Laut Jahresbericht 2011 des Sächsischen Landtags (der von 2012 erscheint voraussichtlich im März) kamen von deutschlandweit 40.000 Flüchtlingen nur rund fünf Prozent nach Sachsen, „oder besser gesagt, sie wurden uns über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zugeteilt.“

Nach drei Monaten in der sächsischen Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz werden sie dann entweder innerhalb der EU in ihre Heimat abgeschoben oder auf die sächsischen Landkreise verteilt. Da Riesa und Gröditz bereits 50 Bewerber aufgenommen hatten, war man dankbar, dass ein Hotelbesitzer in Großenhain eine schnell zu verwirklichende Alternative anbot. Für 66.000 Euro Kaltmiete jährlich verpachtet der Hamburger Besitzer sein Haus nun an die Stadt, vorerst für zwei Jahre. Diese Verhandlung spielte sich zwischen Ende Oktober und Anfang November 2012 ab, sagt Dr. Kerstin Thöns, Pressesprecherin des Landratsamts Meißen. Die Stadt Großenhain hatte also nur ein paar Tage Zeit, um ihren Bürgern mitzuteilen, was sie erwartet. Das bestätigt Frau Diana Schulze, Pressesprecherin der Stadt Großenhain. „Die Stadtverwaltung Großenhain wurde mit dem Schreiben des Landratsamtes Meißen vom 07.11.2012 (Posteingang) über den Sachverhalt schriftlich informiert. Eine mündliche Information erfolgte am 01.11.2012.“

Dennoch hätte es nicht geschadet, die Nachricht auf einer Diskussionsplattform und mit entsprechenden Ausführungen über die zu erwartenden Flüchtlinge kund zu tun. Es hätte möglicherweise die Panik und das hetzerische Einmischen der NPD verhindern können. Die rechtsextremistische Partei nutzte die Unsicherheit der Bürger, um ihre Sicht der Dinge zu verbreiten. Jürgen Gansel, Landtagsabgeordneter und Pressesprecher der NPD Sachsen, redete von „Asyl-Schnorrern“, für die das „gutbürgerliche Hotel Stadt Dresden auch noch großzügig um- und ausgebaut wurde.“ Die Großzügigkeit beschränkte sich auf den Anbau einer Feuertreppe und brandschutztechnischen Erneuerungen, stellt Schulze klar.

Im Heim führt eine Treppe hinab ins ehemalige Kellerrestaurant, das jetzt Aufenthaltsraum und Küche ist. An einem Tisch mit zwei französisch sprechenden Flüchtlingen sitzt Hausleiterin Sylke Kirschner. Bis November arbeitete sie im noch Hotel, wurde danach mit übernommen. Jetzt macht sie im Prinzip nichts anderes als vorher, nur sind die Gäste jetzt länger da und von weiter her. Sie erklärt den Hausbewohnern, wo der nächste Supermarkt oder der Bahnhof ist. Ein bisschen Hausmeister ist sie auch, wenn sie die Funktionsweise der Waschmaschine erklärt und andere technische Hilfestellungen gibt. Für die soziale Integration sind andere zuständig. Gerlinde Franke zum Beispiel. Die diplomierte Sozialpädagogin ist Migrationsbeauftragte und hilft im Namen der Diakonie Riesa-Großenhain. Sie koordiniert die Verteilung eintreffender Sachspenden, Stadtführungen oder Deutschunterricht.

Helfen möchte auch Pfarrer Dietmar Pohl. Er setzte sich schon in der hitzigen Debatte für Verständnis unter den Bürgern ein und war ein wenig enttäuscht über die zum Teil arg fremdenfeindlichen Gedanken. Die anonymen Reaktionen reichten von „Die will hier keiner!“ bis „Jetzt können wir unsere Kinder nicht mehr alleine rauslassen“. Eine Liste wurde ausgelegt, auf der man unterzeichnen konnte, wenn man gegen das Heim war. Angeblich unterschrieben darauf 800 Menschen, das sind immerhin mehr als vier Prozent der Bewohner. Doch Dietmar Pohl entschärft diese Rechnung. „Die Liste lag in Kaufhäusern herum, niemand achtete darauf, wer überhaupt unterschrieb oder wie oft. Sie wurde auch nie eingereicht.“ Er ist wieder optimistisch. „Nach dem stürmischen Anfang, der die Leute aufgewühlt hat, wollen sie jetzt auch helfen. Sie spenden Spielzeug für die Kinder und bieten an, den Asylbewerbern deutsch beizubringen.“ Der Pfarramtsleiter ließ Aufkleber drucken, auf denen steht, dass man selber in fast jedem Land ein Ausländer ist. Er glaubt, dass es eine Annäherung zwischen Bürgern und Flüchtlingen geben kann. In seinem Religionsunterricht stößt er entsprechende Diskussionen mit Schulkindern an. „Wir müssen Verständnis mit Bedürftigen zeigen, denn nach dem Tornado, der 2010 über Großenhain fegte und viel Schaden anrichtete, haben die Menschen hier auch Hilfe erfahren.“ Am 8. März, dem internationalen Frauentag, lädt eine Initiative aus Parteien und Privatpersonen die Frauen aus dem Heim zu einem Kennenlernnachmittag in der Marienkirche ein, um ihnen die Wertschätzung zu zeigen, die Frauen in Demokratien entgegengebracht wird. „Ich glaube nicht, dass das ein Podium wird, aber vielleicht gelingt es am Tisch, vom eigenen Leben zu erzählen.“ Ihre Männer sollen derweil auf die Kinder aufpassen.

Auf dem Rückweg vom Pfarrhaus läuft ein Tschetschene mit einem Kinderwagen in die Innenstadt. Er ist mit Freunden aus einem Asylbewerberheim in Olbernhau im Erzgebirge unterwegs. Sie sprechen kein Deutsch, machen aber mit Händen und Füßen klar, dass sie es dort nicht mögen. „Olbernhau plocho!“, aber „Großenhain charascho!“ Vorher schlecht, jetzt ist es gut. Hier gäbe es ein Krankenhaus, Kinderhilfe und viel mehr Platz.

Ob die vorrübergehend untergebrachten Menschen in Deutschland bleiben dürfen, ist nun eine Frage aufwändiger Verwaltungsprozesse, in denen über ihre Anerkennung als Flüchtling entschieden wird. Aus dem Jahresbericht des Sächsischen Landtags von 2011 erfährt man eine statistische Berechnung ihrer Chancen. Da steht, dass der Prozess „eigentlich innerhalb von 1-2 Jahren abgeschlossen sein sollte. Doch die Praxis sieht anders aus. Nicht wenige von ihnen warten bis zu sieben Jahre oder länger, bis endgültig über ihren Antrag oder Folgeantrag entschieden wird.“ Von zehn Asylbewerbern müssten etwa drei wieder gehen und vier wären ausreisepflichtig, gingen aber nicht zurück. Sie würden geduldet.

Der Ausländerbeauftragte Martin Gillo betont, dass auch “Mitmenschen auf Zeit” ein Anrecht auf „Menschenrechte, auf Schul- und Bildungszugang im Schul- und Bildungsalter und auf Zugang zu unserer Kultur haben.“ Soziale Inklusion nennt er das. Eine Befragung auf der Straße bringt zwar kaum Ablehnung, aber auch wenig Engagement zutage. Offiziell heißt es dazu von der Stadtverwaltung, „dass die Bürgerinnen und Bürger die Unterbringung der Asylbewerber in Großenhain aufmerksam und mit Interesse verfolgen. In persönlichen Gesprächen oder auch in Leserbriefen kommt dabei sehr oft Verständnis für die Situation der Asylsuchenden zum Ausdruck, aber auch persönliche Besorgnis.“

Ein älterer Anlieger, dessen Haus nur wenige Meter vom Asylbewerberheim entfernt steht, ist immer noch wütend auf die Entscheidungsträger. „Uns hat niemand gefragt. Und jede Nacht kommt mehrmals die Polizei vorbei. Bestimmt wegen Unruhen.“ Nach persönlichen Erfahrungen mit den Ausländern gefragt, muss er zugeben, dass sie eigentlich freundlich sind und mittlerweile sogar grüßen, wenn sie an seinem Haus vorbeilaufen. Dass die Polizei jede Nacht vor Ort ist, hat laut Pfarrer Pohl nichts mit Störungen zu tun, sondern mit dem Wunsch der Anlieger nach Sicherheit. Es sei eine Kontrollstreife. Nur ein einziges Mal wären die Heimbewohner auf der anliegenden Wiese abends ein wenig zu laut gewesen und da hätte jemand die Polizei alarmiert.

Eine andere, junge Anliegerin betont, dass sie nicht gegen Ausländer wäre, sondern einfach ihre Ruhe haben wolle, wenn sie nach einem anstrengenden Arbeitstag zu Kind und Familie zurückkehre. Sie wolle weder gegen rechte noch gegen linke Protestler ankämpfen müssen. Berührungsängste mit den Flüchtlingen hat sie nicht. Sie findet schade, dass sich die Kinder untereinander nicht anfreunden könnten, wenn die Asylbewerber immer wieder wechselten. So wie es geplant ist, bleiben die Menschen aber wohl, bis sie eine endgültige Entscheidung erhalten, also sicher ein paar Jahre. Das schließt Annäherung und Freundschaften nicht aus, sondern erfordert sie.

Zurück im Asylbewerberheim sitzt ein serbisches Paar beim Abendessen. Es gibt Nudeln mit Gulasch und dazu einen Salat aus Tomaten, Gurken und Peperoni. Sie erzählen, dass in ihrer Heimat Krieg ist und sie wegmussten. Und von einer mazedonischen Familie, die am nächsten Morgen abgeschoben werden soll. Alltägliche Angst der Flüchtenden. Einen Satz, den hört man öfter. „Deutsche Papiere gut.“ Aber der Mann sagt, er werde es eben woanders versuchen, wenn Deutschland ihm kein Bleiberecht einräumt.

 

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