Aber hier leben, nein danke — Jugend in Algerien

Ahmed sitzt mir gegenüber im Zug nach Algier und fotografiert mich mit seinem Smartphone. Ich habe ihn vor einer Stunde kennengelernt und jetzt lächle ich schon wie eine alte Bekannte in sein Telefon. Weil ich mich daran gewöhnt habe, dass mich Fremde fotografieren. Ahmed macht noch ein Foto. Jetzt mit meiner Kamera. „Damit du eins hast, auf dem du selbst drauf bist“, sagt er. Das ist neu. Alle anderen, die ich auf meiner Reise treffe, wollen ein Foto mit sich und der Europäerin. Ein Haufen Studentinnen fotografiert sich mit mir – jede einzeln. Ein junger Taxifahrer fährt für ein Foto von sich und mir als seiner potenziellen Ehefrau immerhin noch an den Straßenrand. Weniger Extrovertierte lassen sich in Daumen hoch-Pose ablichten und deuten an, ich solle das Bild als Erinnerung an ihr Land mit nach Hause nehmen.

Ihr Land ist ein Land, über das wir Deutschen nicht viel mehr wissen, als dass es eine ganz gute Fußballmannschaft hat. Dann war da noch irgendetwas mit Terroristen. Total schlimm. Und verdammt groß ist es doch, dieses Algerien. Stimmt auch. Es bedeckte fast ein Viertel Europas, wenn man es ausschneiden und über uns ausbreiten könnte. Dieses unüberschaubare Land fühlt sich im halbleeren Morgenzug neben Ahmed und seinem Freund Yassir zum ersten Mal irgendwie greifbar an. Die beiden gähnen viel, die algerische Sonne geht gerade erst rechts neben unserem Zug auf. Sie belichtet eine Landschaft, die an eine Bahnstrecke in Mitteldeutschland erinnert, mit ihren endlos durchlaufenden grünen Wiesen. Regelmäßig zieht ein Strommast vorbei, gelegentlich mal ein Laubbaum und am Horizont ein paar Hügel, so dass nur die hellbraunen, wie lieblos mit zu großen Sandförmchen hingekleckeren Siedlungen daran erinnern, dass wir in Afrika sind. Die Wüste ist noch weit weg. In dem metallgrauen Zugabteil wirkt Algerien so aufgeräumt und steril wie eine deutsche Regionalbahn, nur dass die Kontrolleure deutlich schmuckvollere Dienstkleidung tragen dürfen.

Auch die beiden jungen Männer sehen irgendwie unafrikanisch aus. Der eine trägt eine Art Hipsterbrille auf der Nase – es ist die erste die ich in Algerien sehe – der andere einen bunten Kapuzenpulli. Beide gingen problemlos als Deutsche mit mediterranen Wurzeln durch, so hellhäutig sind sie. Aber sie sind Algerier. Yassir ist Araber, sagt er, obwohl er aussehe wie ein Jude – er macht die Geste einer großen Nase. Ahmet ist kabylischen Ursprungs, so wie auch der frühere Fußballer und jetzige Trainer Zinédinne Zidane. Kabylen sind Berber, ein Urvolk der nordafrikanischen Länder. Kabyle sein ist in etwa so, als käme man in Deutschland aus Bayern, aus einer Region also, die sich vom Rest des Landes separieren möchte, obwohl sie dazu gehört. Kabylen grenzen sich vom übergestülpten Arabertum ab. Die staatenübergreifende, arabische Identität half den Algeriern in den 1960ern zwar, sich von der Kolonialmacht Frankreich zu befreien. Doch der zunehmende Fundamentalismus führte das uneinige Volk keine dreißig Jahre später in einen Bürgerkrieg, in dem Islamisten jeden töteten, den sie für einen schlechten Moslem hielten, während die Militärregierung jeden foltern oder verschwinden ließ, der gegen den Staat aufbegehrte. Bis zu 150 000 Algerier starben zwischen 1991 und 1999.

In etwa so viele Menschen leben heute in Tlemcen, in der nordalgerischen Stadt nahe der marokkanischen Grenze, von der wir heute Morgen aufgebrochen sind. Auch dort sind die allermeisten Fenster noch vergittert, was erahnen lässt, wie groß die Angst der Bevölkerung vor zwanzig Jahren gewesen sein muss. Beim Blick auf die Welt durch diese Gitter spürt man sie heute noch. Ahmed und Yassir sind 22. Sie wurden in den Krieg hineingeboren und wuchsen in der sich anschließenden gesellschaftlichen Sicherheitsverwahrung auf, die Präsident Abd al-Aziz Bouteflika mit militärischen Mitteln am Leben erhält, obwohl er selbst es mit seinen 78 Jahren kaum noch zu sein scheint. Ein erfülltes Leben in diesem abgesicherten Algerien können sich die jungen Männer nicht vorstellen. Aber sie leben nun einmal hier. Haben gerade mit Freunden einen gemütlichen Freitag verbracht – der algerische Freitag entspricht unserem Sonntag, am algerischen Sonntag wird wieder gearbeitet – und sind auf dem Weg nach Oran, um sich auch in der vermutlich freizügigsten Stadt des Landes eine schöne Zeit zu machen, wie sie sagen. Natürlich alles im Rahmen ihrer Religion, Alkohol und andere unerlaubte Ausschweifungen gehören nicht dazu. Sie leben nach dem Koran, beten fünfmal am Tag, egal, wo sie gerade sind. Yassir ist Medizinstudent. Seit fünf Jahren studiert er an der Universität in Tlemcen. Er hat noch zwei Jahre vor sich, bevor er sich spezialisieren kann, was noch einmal fünf Jahre dauern wird. Was er dann machen wird, weiß er noch nicht. In Algerien plant man nicht lange in die Zukunft, sagt er. Im Herbst will er, wenn das mit dem Visum klappt, auf Europatour gehen; nach Holland, Polen, in die Schweiz und nach Deutschland.

Wir rattern seit fast zwei Stunden durch das immer noch mitteldeutsch aussehende Algerien, unterhalten uns über Unverfängliches, über den Deutschkurs von Yassir – der, wie fast alle Menschen, die ich in Algerier getroffen habe, von Deutschland fasziniert ist. Vor allem scheinen die Algerier fasziniert von der deutschen Geschichte. Der weltoffene Medizinstudent findet Hitler zumindest interessant, so als geschichtliche Figur, nicht wegen der Sache mit den Juden. Alle meine anderen Hitler-Begegnungen liefen darauf hinaus, dass mir quasi stellvertretend gratuliert wurde. Dafür, wie gut er das damals gemeistert hat. Dabei gibt es in Algerien nicht mehr viele Juden. Von einst mehr als 100 000 verließen nach der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 und während des Unabhängigkeitskrieges die meisten das muslimisch dominierte Land. Doch Rassismus ist üblich in Algerien. Menschen werden in Gruppen eingeteilt. „Wenn jemand in Algerien dunkelhäutig ist“, sagt Ahmed in seinem gebrochenen Englisch, „so ist er Araber. Ist er blond und blauäugig, ist er Türke.“ Auf jeden Fall ist er Europäer. Die sind nämlich alle blond, auch ich, mit meinem braunen Haar, bin blond und so schön, wie eben alle Europäer schön sind. Dann sagt er einen Satz, der sich in etwa so übersetzen lässt: „Wenn nur die Europäer mehr Kinder kriegen würden und nicht nur die Araber, die Schönheit der Welt würde sich unglaublich erhöhen.“

Ahmed sagt noch öfter solche, fast poetisch klingenden Absurditäten. Er erzählt, dass er Schuhmacher ist und ich muss an den Suk in Tlemcen denken. An die verwinkelten, halboffenen Ladenpassagen, in denen man alles kaufen kann – von ausgeblichenen Postern algerischer Popstars über die komplette Hochzeitsausstattung bis zum neonfarbenen Tanga. Statt gut gearbeiteter, lokal produzierter Mokassins stapeln sich dort die billig produzierten chinesischen Schlappen, die so großzügig mit Pailletten und anderem Glitzerzeug verziert sind, dass man das Kunstleder darunter kaum mehr erkennen kann. Den unübersehbaren Verlust der handwerklichen Traditionen findet auch Ahmet nicht gut. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, setzt er noch auf Qualität und nicht auf die schlechte Kopie europäischer Modelle. Das sagt er, zeigt auf seinem Handy dann aber Bilder von dicken Winterstiefeln aus Leder, die aussehen, wie die knöchelhohen Winterschuhe aus braunem Wildleder, die man in Deutschland überall kaufen kann. Ahmed sagt, die Schuhe werden nach Marokko exportiert, in Algerien könne sich die keiner leisten. Weil er sein Handy gerade in der Hand hält, macht er das Foto von mir.

Auf die Frage, warum die Algerier so gerne Touristen fotografieren, bekomme ich eine schlüssige Antwort von einem 34-jährigen Deutschen, der seit fast zwei Jahren in Algerien lebt. „Es bedeutet so viel für sie, besonders für die Jungen, dass Ausländer zu ihnen kommen. Endlich wieder, nach zwei Jahrzehnten Isolation. Mit den Ausländern kommt die Normalität. Das ist es, was viele, vielleicht die meisten wollen: normal leben.“ Ob es normal ist, das Leben in Algerien, lässt sich nicht so leicht sagen. Es fühlt sich jedenfalls nicht nach Ausnahmezustand an. Die Menschen sind offen und freundlich, sie bevölkern die öffentlichen Plätze und die Cafés, in die nach wie vor nur Männer gehen. Nicht, weil es algerische Frauen nicht dürften, aber es gehört sich eben nicht. Wir werden jedoch nicht komisch angeschaut, als wir es trotzdem tun, wir werden angenehm ignoriert. Ironischerweise ist das Land vor allem deshalb touristenfreundlich, weil man, bis auf die Sache mit dem Fotografieren, als Tourist meistens seine Ruhe hat. Ganz im Gegensatz zu den beiden maghrebinischen Nachbarländern Marokko und Tunesien, betrachten sie dich hier nicht als laufenden Geldbeutel, sondern eher als exotische Abwechslung.

Ahmed wird jetzt immer gesprächiger. Er fragt, ob die Menschen da, wo ich herkomme, islamophob sind. Ich überlege kurz und erspare ihm eine detaillierte Antwort. Ich sage nur, es gäbe schon welche, die nicht verstünden, warum im Namen Gottes Anschläge verübt werden. Ahmed sagt, das mit den Anschlägen auf Charlie Hebdo sei ausgedacht und dass viele Algerier so denken würden. Gleichzeitig fragt er sich aber auch, warum Menschen Massenmördern glauben. „Wenn ein Terrorist sagt, er tue so etwas im Namen des Islam, ist das schlicht gelogen. Amerikanischen Serienmördern glaubt man ja schließlich auch nicht.“ Jetzt sind es nur noch ein paar Minuten bis zum Umsteigebahnhof, wo sich unsere Wege trennen. Ich werde mutiger. Ob es gut wäre, in Algerien als Frau aufzuwachsen, frage ich. Nein, sagt Yassir. Die hätten nicht so viele Freiheiten. Und wenn er selbst mal Kinder bekommt, dann hoffentlich Jungs, denn auf die Mädchen müsse man aufpassen, bis sie 18 sind, während Jungs schon mit 13 selbständig wären. „It’s better to have the key than the box“. Er lacht.

Wenn alles klappt, wie sie sich das mit ihren Leben vorstellen, dann sind die beiden bald nicht mehr in Algerien. In dem Land, von dem sie behaupten, es wäre das korrupteste der Welt. „Man braucht nirgends ohne Geschenke hingehen, wenn man etwas erreichen will. In Kamerun ist wenigstens nur die politische Riege bestechlich, hier ist es jeder kleine Beamte“, sagt Yassir und wirkt zum ersten Mal traurig. Dann erzählt er davon, dass die Kinder der Kriegsveteranen mit den Papieren ihrer Eltern zum Amt gehen und sich so vor den Steuern drücken. „Gegen die festgefahrenen Strukturen kommt man mit Idealen nicht an.“ Die beiden sind jung, tolerant, klug und ganz sicher nicht die einzigen im Land, die so denken. Aber sie haben wenig Hoffnung, keine algerischen Vorbilder, kennen nur Grenzen und wenig Möglichkeiten. Der Glaube ist, was ihr Land noch zusammenhält, doch es ist nicht der Glaube an eine bessere Zukunft. Auch ihre Religion wird irgendwann im 21. Jahrhundert ankommen. Ahmed hat jetzt schon eine Gebetszeiten-App auf seinem Handy. Erstes Gebet heute: 5.01 Uhr. Da musste er eh aufstehen, wegen der Zugfahrt.

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