Reden ist besser als schweigen

„Was die Cancel Culture durchdringt, ist eine Nicht-Debatten-Haltung: Nicht nur wird eine Person oder Position ausgeschlossen, sondern was ausgeschlossen wird, ist die Debatte selbst.” (Slavoj Žižek)

Ich erzähle, dass ich zu einer Lesung von Alice Schwarzer gehe, und alle teilen mir unaufgefordert ihre Meinung zur Person mit, die nie positiv ist: Schwarzer ist transphob, rassistisch, anstrengend, überholt, hat was Komisches zum Krieg in der Ukraine gesagt, wird jetzt sicher in die Partei von Sahra Wagenknecht eintreten. Sogar meine Mutter reagiert genervt, als ich davon erzähle. Und denke ich nicht irgendwie ähnlich, obwohl ich mich nie weiter mit DER deutschen Feministin auseinandergesetzt habe? Wer also, frage ich mich, werden die Menschen sein, die in der ausgebuchten Leipziger Stadtbibliothek neben mir sitzen? Zuerst einmal aber sehe und höre ich die, die nicht neben mir sitzen wollen. Rund 30 junge Menschen, mit Masken oder Tüchern vor ihren Gesichtern. Sie laufen in den Saal, von stürmen kann eigentlich keine Rede sein, sie werden eingelassen, niemand möchte sich verdächtig machen, hier Meinungsfreiheit nicht zuzulassen.

Jedenfalls halten die Protestlerinnen* ihre Schilder hoch – ich google TERF, damit ich verstehe, gegen wen oder was sie sind – und sie besetzen die Bühne, rufen ihre Parolen, immer wieder auch diesen Satz: „Eure Kinder werden so wie wir, eure Kinder werden queer.“ Den ersten Teil davon haben wir in den frühen 2000ern Neo-Nazis entgegengebrüllt, als die noch ungestört durch die Dresdner Innenstadt marschieren konnten. Jetzt also bin ich wohl der Nazi und meine Kinder werden so wie die Protestlerinnen. Das heißt, dass sie vermutlich studieren, sich für Transgender-Personen einsetzen und Menschen nicht auftreten lassen möchten, die eine andere Meinung vertreten als sie selbst. Ganz schön konkrete Vorstellung von der nächsten Generation haben sie also. Allerdings sind die meisten im Saal eher so alt, dass sie die Großeltern der Protestlerinnen sein könnten.

Ich sehe mir ihren halbstündigen Auftritt wie eine Performance an. Jeder hat dabei seine Funktion: das leicht überforderte Bibliothekspersonal, die Besucher, die vor allem genervt sind, weil sich ihr Leseabend verzögert, die später auftretende Polizei, selbst die abwesende Alice Schwarzer, die hinter der Bühne in einem kleinen Raum warten muss, bis der Saal von den Protestlerinnen beräumt ist. Später wird sie sagen, dass sie gern vorgekommen wäre, aber ihr von den Veranstaltern abgeraten wurde. Gewaltbereite Szene, hieß es. Ich denke an die adrenalinbefeuerten Twens mit ihren Ohrringen und lackierten Fingernägeln und muss ein wenig grinsen. Ein paar Menschen werden zwar ausfällig, allerdings auf Seiten der Gäste, aber die allermeisten nehmen zur Kenntnis, dass sich da jemand Gehör verschaffen will, ohne ins Streitgespräch gehen zu müssen. Dafür müssten sie sich mit der Materie beschäftigt haben, mit den genauen Positionen und nicht zuletzt müssten sie einer Person Paroli bieten, die seit 50 Jahren nichts anderes macht, als sich in den gesellschaftlichen Gegenwind zu stellen, um sich für etwas einzusetzen, was am Anfang so unvorstellbar war, dass es selbst von den meisten anderen Frauen weggelächelt wurde. Dagegen ist der Protest, den Alice Schwarzer an diesem Abend erfährt, eben der von angehenden Akademikerinnen, die nichts auf der Bühne kaputt machen, noch nicht einmal das große Roll-Up hängt schief, nachdem sie weg sind. Sie haben ihren Chor vom Dagegensein aufgeführt, vor einem Publikum, das sich nach der Hauptband sehnt oder einfach danach, nicht zu spät ins Bett zu kommen.

Dann betritt sie endlich die Bühne, eine gerade 80 Jahre alt gewordene Alice Schwarzer, Ikone der Zweiten Welle der Frauenbewegung, vorher waren nur die Suffragetten. Ich finde, sie sieht ungemein nach der Alice Schwarzer aus, die ich aus dem Fernsehen kenne, und das beeindruckt mich. Dann lächelt sie einnehmend und beginnt, nach einer kurzen Vorstellung ihres langjährigen Lektors und Verlegers Helge Malchow, aus ihrer Autobiografie „Mein Leben“ zu lesen. Doch immer wieder kommt sie zurück zu dem Protest und dazu, wie vergleichbar harmlos der Auftritt doch war. Es wurmt sie schon, könnte man meinen, dass sie keine Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen. „Wir müssen tapfer sein und entschieden. Sie wollen nichts lesen, wissen nichts. Wir haben Redeverbot. Stellen sie sich dagegen!“ Das wirkt, wenn man nur an die 30 Protestlerinnen denkt, ein wenig übertrieben. Dass aber im Vorfeld tatsächlich ein Auftrittsverbot gefordert wurde, dass ein Veranstalter des Festivals, im Rahmen dessen diese Veranstaltung stattfindet, sich aus dem Organisationsteam zurückzog, dass mehrere Autoren und Autorinnen nicht mehr gewillt waren, bei diesem Festival aufzutreten, wenn Schwarzer es tut und einige Kooperationspartner absprangen, dass die Veranstalter zwei Personenschützer engagieren mussten, das ist schon ein Grund, sich ernstere Gedanken über unsere Gesellschaft und ihre Bereitschaft zum Aushandeln von Konflikten zu machen.

Früher waren die Gegner von Alice Schwarzer Männer und die übertrafen sich mit kreativen Spitznamen: „Nachteule mit dem Sex-Appeal einer Straßenlaterne“ stand 1975 über sie in der Münchner Abendzeitung, „Frustrierte Tucke“ in der Süddeutschen oder „Amazone, kämpferisch von Kopf bis Fuß“ im Stern, was damals vermutlich noch als Abwertung gemeint war. Doch schon seit einigen Jahren wenden sich die von ihr Befreiten gegen sie. Die Subjekte ihrer jahrelangen Bemühungen entwickeln neue Vorstellungen, davon, was Gleichberechtigung und Freiheit jetzt heißen könnte. Und das ist doch eigentlich ein gutes Zeichen. Denn sie können es. Sie werden gehört, sie haben Einfluss und sie sind bereit zu Widerworten, wollen nicht von allen gemocht werden. Interessant ist aber, dass der Widerspruch bei jenen Frauen am größten zu sein scheint, die am meisten von der Entwicklung profitiert haben, von jenen also, die sich für sehr emanzipiert halten, die ihre eigenen Entscheidungen treffen, finanziell unabhängig sind und, im Zweifel, keine Kinder kriegen. Dabei stehen gerade diese Frauen stabil auf Schwarzers Schultern. Dort oben spürt man vielleicht nicht mehr so gut, wie es sich anfühlt, wenn man aufgrund seines Geschlechts nicht ernstgenommen wird.

Die Verhandlungsmasse Gleichberechtigung wird kleiner und je genauer alle hinschauen, desto häufiger wird etwas gefunden, von dem frau aber auch man und alle anderen sich abgrenzen müssen, wenn sie moralisch unantastbar bleiben wollen, falls so etwas überhaupt möglich ist. Aus der dehnbaren Bubble wird so eine Stahlkugel, die verhärtete Fronten schafft. Dann ist die schöne Ambiguitätstoleranz eben nur noch ein sperriger Begriff aus der Psychologie und nicht etwa ein Gesellschaftsmodell, in dem wir trotz verschiedener Einstellungen und Meinungen miteinander auskommen und uns, im besten Sinne, mit unseren Unterschiedlichkeiten aushalten. In einer guten Beziehung tun wir das ganz automatisch, denn niemand liebt alles an seinem Gegenüber, aber lernt mit den, aus seiner Sicht, Schwächen des Anderen umzugehen. Wenn wir das Private konsequent auf die Gesellschaft ausdehnen würden, täte sich ein Raum auf, in dem wir miteinander streiten oder eben miteinander anderssein können. Selbst schwierige Positionen könnten wir so ertragen, solange wir uns selber positionieren, aber nicht einfordern, dass eine andere Person es ebenso sieht. Alles in einem demokratischen Rahmen natürlich, muss man ja immer wieder dazusagen.

Was aber ist mit Personen, die außerhalb dieses Rahmens denken und argumentieren? Müssen wir die auch tolerieren oder entschieden dagegenwirken? Wie sieht dieses Wirken dann aus und was erreichen wir damit wirklich? Und warum soll eine Person, die sich ihr ganzes Leben für Gleichberechtigung eingesetzt hat und die – ja – ein paar streitbare Thesen vertritt, und darüber auch streiten möchte, warum soll diese Person aus dem Diskurs ausgeschlossen werden? Ist das wirklich eine lebenswerte Vision für die Zukunft, in der doch alle so sein sollen können, wie sie wollen? Mir wird ein wenig schwindelig von meinem eigenen Toleranzbereich. Schwarzer liest immer noch. Sie springt jetzt aber immer schneller durch ihr Leben: Nachkriegskindheit in Armut, ich merke mir, sie liebt ihren Großvater, Vater abwesend, trifft mit 27 Jean-Paul Sartre zu einem Interview in kurzem Rock und schämt sich dafür vor Simone de Beauvoir, mit der sie zwei Jahre später in Paris die erste Frauenrechtsbewegung gründet. 1975 bringt sie dann dieses Buch heraus, „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ und wird fast über Nacht in Deutschland berühmt. Ab da Gegenwind, bei gleichzeitig riesiger Zustimmung vieler Frauen. Später Gründung einer Frauenzeitschrift, die heute noch existiert, damit die neuen Themen nicht nur von Männern diskutiert werden: Recht am eigenen Körper, Ende der „Hausfrauenehe“, die Möglichkeit zur Abtreibung, Fragen zur weiblichen Selbstbestimmung.

So gebündelt klingt es unglaublich, was in den letzten 50 Jahren für Frauen besser geworden ist. Und doch, so mahnt Frau Schwarzer von der Bühne, auch wieder Richtung Feministinnen der aktuellsten Welle: „5000 Jahre Patriarchat werden nicht in 50 Jahren aufgeholt. Die Tochter einer unterdrückten Frau wird nicht komplett unabhängig und auf einmal genau so mächtig wie ein Mann.“ Der dunkle Kern des Machtverhältnisses bliebe die Gewalt, trotz Quoten und einiger, erfolgreicher Frauen. „In jeder dritten Beziehung herrscht Gewalt. Frauen sind das gefolterte Geschlecht, auch die heute Emanzipierten, die davon nichts hören wollen, tragen einen inneren Schrecken in sich, anders eben als die Männer.“ Hier erinnert sie wieder an ihren liebevollen Großvater und dass sie Männer nicht von Natur aus für schlecht hält. Da lacht der junge Mann neben mir erleichtert auf. Er schreibt für die Uni-Zeitung, obwohl in der Redaktion darüber diskutiert wurde, dieser Frau keine Plattform zu geben. Überraschend charismatisch findet er Alice Schwarzer, auch inhaltlich spannend, aber beim Thema Transgender meldet sich seine Sitznachbarin zu Wort, da rede Schwarzer zu sehr von ihm und ihr, also von nur zwei Geschlechtern, das passe nicht in die aktuelle Sicht, das verletze Menschen. Er dagegen überlegt, ob er sich ein Autogramm auf einer „EMMA“ holen sollte, die wird schließlich an diesem Abend in einem Sonderangebot verkauft.

Nach gut zwei Stunden ist alles vorbei. Beim Büchertisch bildet sich eine Schlange, während draußen vor der Tür im Nieselregen die letzten Protest-Teilnehmerinnen ihre Daten abgeben müssen. Ob sie jetzt denken, sie hätten etwas getan, das die Welt ein wenig besser macht, weil sie einer 80-Jährigen den Mund verbieten wollten? Gerade, als ich denke, gut, dass ich mir meine eigene Meinung gebildet habe, lese ich auf dem Rückweg die Schlagzeile, dass die „EMMA“ Jan Böhmermann zum „Sexist man Alive“ gekürt hat, weil die eigene Jury findet: „Böhmermann will nicht erhellen, sondern verdunkeln. Er ist ein Biedermann und Brandstifter – und der Gipfel aufgeblasener Männlichkeit.“ Der Artikel ist so polemisch, dass mein neu konstruiertes Toleranzkonstrukt gleich wieder ins Wanken gerät. Also eigentlich ist alles wie immer.

*benutze das generische Femininum und meine alle Geschlechter

Foto von Alice Schwarzer, 1989: Ingrid Kruse

Zitat Slavoj Žižek: Sagen, Schweigen und Zeigen – Wittgenstein und die „Cancel Culture”

1 Comment for “Reden ist besser als schweigen”

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