Die Wahrheit der Nacht

In ihrem vierten Roman denkt Martina Hefter über die Liebe in Zeiten des abnehmenden Mannes nach.

Juno liebt das Tanzen und ihre langen Beine. Sie ist Anfang fünfzig, eine weiße Frau, freiberufliche Performancekünstlerin, hat keine Kinder. Sie lebt in Leipzig, Tür an Tür mit ihrem bettlägerigen Ehemann Jupiter. Nur in ihren Geschichten, die sie Fremden angetrunken in der Bar erzählt, beschützt er mit seiner Gravitationskraft die Erde vor Asteroideneinschlägen. Allerdings ist sie fast nie betrunken, verträgt keinen Alkohol. Trotzdem erzählt sie Benu, der sie auf einer Flirt-Plattform online anschreibt, dass sie öfter ausgeht, viele Lover hat und ein freizügiges Leben führt. Sie sucht Kontakt mit der Welt und möchte gleichzeitig nichts von sich preisgeben. Immerhin das hat sie mit Benu gemeinsam. Also erzählen sich beide nachts am Rechner Lügen über ihr Leben. So beginnt der neue Roman von Martina Hefter „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“

Juno antwortet öfter auf Nachrichten von „weißen, grauhaarigen Männern mit Basecap und Drei-Tage-Bart“. So sehen die Profilfotos von Männern aus, die Jimmy Taylor_354 oder Marcus Debuonaventura heißen und Wohlstand oder wenigstens Hoffnung symbolisieren sollen. Für Frauen, die keinen abbekommen haben, so geht das Spiel, das weiß Juno, sie hat Dokumentationen über Love-Scamming gesehen. Frauen, die viel Geld überweisen, um auf eine späte Liebe zu hoffen, die dann nicht am Flughafen auftaucht und ihr Profil löscht. Juno hat selbst kaum Geld und vielleicht will sie diese Frauen ein wenig rächen, gehört sie doch selber bald zu denen, die älter, vernachlässigter und sexuell bedürftiger werden – oder ist sie es längst? Diese Frage traut sie sich nicht zu stellen, aber sie steht als unsichtbares Willkommensschild über ihrer Wohnung, in der sie für Jupiter einkaufen geht, seine Briefe einwirft, seine Medikamente holt und nachts heimlich mit unbekannten Männern chattet.

Während die gegenseitigen Lügen sonst schnell enden, weil das Spiel mit Juno nicht funktioniert, gibt ein Owen Wilson aus der Ukraine nicht so schnell auf und entpuppt sich in zweiter Identität als jener Benu aus einer kleinen Stadt in Nigeria. Ein Mann um die 30, der bei seiner Mutter lebt, keine Arbeit findet, Computerspiele spielt und Gras raucht. Und Frauen online um ihr Geld betrügt. Weil er wenig Hoffnung auf ein besseres Leben haben kann, weil falsche Seite des Kontinents, weil Ausbeutung und Desinteresse des Westens, weil korruptes System – die Liste der Ungerechtigkeiten ist lang. In diesem moralischen Dilemma beginnen Juno und Benu eine Konversation, eine vorsichtige Annäherung. Sie lügt hier und da ein wenig weniger, er vielleicht auch – das wissen wir aber nicht, wir bleiben bei Juno – und es entsteht eine Verbindung zwischen ihnen, die zumindest für Juno Sinn stiftet, auch wenn sie wachsam bleibt, nicht ausgenutzt werden will, nicht auf einen Liebesausbeuter reinfallen will und dabei den, der sie ausbeuten wollte, für ihre Zwecke benutzt. Selbst das ist ihr klar. Sie weiß auch, dass diese Beziehung endlich sein wird, genau wie alles andere in ihrem Leben. „Egal, was man gerade macht, die Blumen gießt, ein Brot isst, tut man das auf dem Weg zum Sterben.“ 

Das Älterwerden ist eines der großen Themen des Romans, die wie nebenbei ausgehandelt werden. Die Protagonistin fühlt sich nicht wie Anfang fünfzig, sieht vielleicht auch noch nicht so aus, aber reflektiert sich doch permanent an jüngeren Menschen, die auf sie herunterschauen, sie ignorieren oder ihr Semi-Komplimente dafür machen, dass ihr Alter schwer zu schätzen ist. Man solle in Würde altern, das sagen immer nur Frauen, die jünger sind und sich diesen Prozess erst einmal nur theoretisch vorstellen. Praktisch bekommt das Gesicht Dellen an komischen Stellen, legen sich Falten in jede Bewegung, hängen die Mundwinkel nach unten, wenn man seine Züge entspannt. Juno, die Tänzerin, die Frau, die am liebsten auf der Bühne steht, die so beweglich ist, wie es ihr Mann nie war, diese Juno weiß, wohin jeder gelebte Tag führt. Sie weiß, dass es Jupiter nie mehr viel besser, aber um einiges schlechter gehen wird, dass sie irgendwann auf keiner Bühne mehr stehen wird, dass Geld für sie immer ein Thema bleiben wird. Diese Juno weiß auch, dass es Benu in Nigeria noch viel schlechter geht als ihr. 

Das Buch endet trotz all dieser düsteren Erkenntnisse hoffnungsvoll. Es ist kein Happy End von Dauer, es ist ein Happy End-Moment, wie jeder glückliche Moment nur ein Ausschnitt sein kann, von etwas, das sich fortwährend verändert und weiterentwickelt. Jupiter und Juno aber sind Götter, sie sind Geliebte, sie stehen für Kraft, Schönheit, Fürsorge und Erhalt. Dass dieser Roman immer mal wieder sehr nah am Leben der Autorin entlanggeschrieben ist, es hier und da sogar kreuzt und dann wieder scharf abbiegt, erhöht den Reiz beim Lesen, denn nichts ist intensiver als die Wahrheit, so ausgedacht sie auch sein mag.

Martina Hefter 
„Hey guten Morgen, wie geht es dir?“

Klett-Cotta
VÖ: 13.7.2024
222 Seiten, 22 Euro

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