Allein auf der Paarschale
Wenn man ohne Begleitung durch die Gegend zieht, sieht man mehr als viele andere. Über erste Begegnungen, zweite Anläufe und Dritte-Rad-Momente.
Ab hier darf man nicht mehr aus dem Fluss trinken. Ab hier, damit meint mein letzter Gastgeber ab der Stadt, in die ich gerade hineinlaufe. Krasse 3000 Einwohner hat sie, eine Ausgeburt der Zivilisation! Endeten meine Wandertouren bisher immer in Örtchen mit gerade mal einer Einkaufsmöglichkeit, ist mein Weg nun gesäumt von Campingplätzen, Pizzerien und Hotel-in-X-Kilometern-Schildern. Als diese Stadt noch in Jugoslawien lag, beschloss Team Tito, hier die Stecknadel besonders tief in die touristische Landkarte zu stechen und daraus ein Winter- wie Sommerparadies für Sportler zu machen. Da gerade Sommer ist, fahren viele Menschen mit Mountainbikes herum, dazu die Rentner, die über die gut ausgebauten Landstraßen einfallen. Oben drüber dann noch Paraglider. Jede Menge Paraglider. Sie schweben von allen Seiten auf eine Wiese neben der Landebahn zu, auf der gefühlt halbstündlich kleine Privatflugzeuge ankommen, mit Menschen darin, die sich nur wenig später ebenfalls in Paraglider verwandeln.
Ich wandere also in diese Stadt und muss mich erst einmal an soviel geballten Sportsgeist gewöhnen. Bisher war ich die mit dem krassen Hobby, auf einmal bin ich nicht mal mehr in den Top-Five der Outdoor-Aktivitäten. Da sind ja auch noch die Kanuten, die Wildwasser-Rafter und die Kajakfahrer, von den Zip-Linern fange ich gar nicht erst an. Selbst die Rentner sehen hier fitter aus, in ihren beigen Funktionsklamotten. Ich fühle mich schlagartig zehn Jahre älter und humpele wie zum Beweis die letzten Meter den Berg hinauf zu meinem Hostel. Da immer noch Ferien in Bayern und Baden-Württemberg sind, höre ich viele deutsche Sätze – was sagte mein Gastgeber am vorherigen Tag auch noch: erst kam Mussolini, dann Tito, dann die Holländer, schließlich die Ost- und irgendwann die Gesamtdeutschen. Eine bayrische Abi-Klasse, vielleicht auch nur eine freundschaftlich verbundene Ansammlung junger Menschen, trägt eine humpelnde Radfahrerin an mir vorbei ins Haus. Ihr geschwollenes Bein unterm Verband lässt für den nächsten Radeltag nichts Gutes erahnen. Dennoch ist die Stimmung in der Gruppe gut, ich werde mich von ihren mittelmäßig spannenden Geschichten unter meinem Fenster in den Schlaf murmeln lassen.
Ich checke aber erst einmal ein, bei einem, sagen wir, sehr zugewandten 44-jährigen Hostel-Besitzer. Sein Alter weiß ich, weil er es mir bei einer Kirsch-Kremšnita (Super lecker!) erzählt, die ich fatalerweise aus Anschlussmangel bei ihm am Empfang esse. Unser Gespräch schlägt nach der Info, dass er schon in der Hauptstadt ein Hostel geführt hat, dass er vielsprachig und supersportlich ist und zudem auf ein paar Ex-Frauen blicken kann, schnell eine weniger geschäftsführende Richtung ein. Als ein befreundeter Restaurantbesitzer zur Tür hereinschaut, verscheucht er ihn mit einer Geste wie einen lästigen Hund. Kurz darauf teilt er mir ganz serviceorientiert mit, er könne uns ein separates Zimmer buchen, um sich in Ruhe zu unterhalten. Seine Alkoholfahne stand vorhin schon gut im Raum, jetzt bietet er mir auch einen Schluck von ihrer Ursache an. Ich lehne den Fusel ab und teile ihm gleich noch mit, dass ich sein Angebot als “highly inappropriate” empfinde. Er nimmt die Abfuhr dann wirklich supersportlich, vermutlich passiert ihm das nicht zum ersten oder zweiten Mal. Ich packe zusammen und beschließe, dass das für heute genug Kulturaustausch war und gehe auf mein Vier-Bett-Zimmer, in das der Inappropriate-Mann freundlicherweise keinen anderen Gast mehr eingebucht hat.
Am nächsten Morgen wache ich früh auf. Die Kirchturmuhr neben meinem Kopf schlägt sieben und die Touristen aus den klapprigen Hostel- und den überteuerten Hotelbetten. Was ist eigentlich aus dem guten alten Hahnenschrei geworden? Ich ziehe mich an und packe. Beim Bezahlen stelle ich erleichtert fest, dass mir der Schichtwechsel eine freundliche Angestellte vom Hostel-Chef präsentiert. Sie informiert mich darüber, dass genau heute Saison-Wechsel ist und sich die Preise für die kommende Nacht erhöhen werden. Ab sofort ist Höchstsaison, ich mache mich also aufs Schlimmste gefasst. Es sind 50 Cent mehr. Aber weil es ziemlich aufwändig ist, das im System umzustellen, und der Chef wohl am Vorabend noch nicht damit angefangen hat, erlässt sie mir den Aufschlag. Nach diesem Maxi-Sparerlebnis hole ich mir noch eine Kremšnita, dieses Mal in der nicht genauer definierbaren Geschmacksrichtung süß, und einen großen Kaffee. Ich setze mich mit meinem Frühstück auf einen leeren Kinderspielplatz und schreibe das zuletzt Erlebte in mein Notizbuch, das “Chronik der laufenden Ereignisse” heißt. Weil ich ja im Wanderurlaub bin, also laufe, finde ich das sehr lustig, allerdings noch nicht auf diesem Kinderspielplatz, sondern erst zu Hause, beim Abtippen. Auf dem Kinderspieplatz stelle ich erst einmal fest, dass mir meine Beine die letzten laufenden Ereignisse noch nicht verziehen haben. Die Waden schmerzen, die Knöchel sind schwach, meine Zehen sind immerhin nur ein bisschen taub. Ich beschließe, heute einfach nur so umherzulaufen. Ich starte Richtung Paraglider, denn hinter ihrer Landebahn liegt sie, meine smaragdfarbene Liebe – der Fluss, auf den ich in den Bergen traf und der hier immerhin schon so warm ist, dass ich meine schmerzenden Körperteile ungefähr fünf Sekunden darin abkühlen kann.
Ich laufe über zwei Stunden umher. Google-Maps verarscht mich ein paar Mal mit der kürzesten Wegbeschreibung. Ich stoppe vorm Do not cross!-Schild am Flugplatz und schwitze mir bei dessen Umrundung einen Extraliter Wasser aus dem Körper, auf der Suche nach Schatten oder einem wirklich guten Grund, an meinem freien Tag durch die pralle Sonne zu laufen. Es sind über 30 Grad. Irgendwann komme ich am Wasser an, an einer wunderschönen wilden Strandbar. Ich beschließe, dort auf meine neuen Freunde zu warten. Auf Claus und Joachim, die ich im einsamen Tal vor dieser Stadt kennengelernt habe. Vor 20 Kilometern, wo man das Wasser noch aus dem Fluss trinken konnte! Claus und Joachim wollen mich jedenfalls besuchen, in der Stadt, per SMS bestätigen sie ihre Reisepläne. Das ist auch nach nur einem Tag Abstinenz ein Grund zur Vorfreude. Ich beschließe, noch schnell etwas essen zu gehen, laufe ans andere Ufer, setze mich im Schatten eines großen Baumdingens in einen Restaurantgarten und versuche zu ignorieren, dass alle um mich herum zu zweit an ihren Tischen sitzen. Ist mir doch egal, dass scheinbar die gesamte Urlaubswelt in Paaren daherkommt! Es ist mir egal, wie sie da auf ihren vollbesetzten Atomschalen so unglaublich gesättigt vor sich hinsitzen. Ich aber habe tierischen Hunger. Nimm diese schiefe Metapher, Physikunterricht!
Von einer sehr käselastigen Thunfisch-Pizza nun auch gesättigt laufe ich zurück an die Strandbar, rolle meinen Körper in den Schatten am Ufer und schaue fern. Die Kajakfahrer, Kanuten und Rafter fahren Kajak, Kanu und Wildwasserboot. Eine makellos braune, bis kurz vor die Knochen austrainierte Frau hat Mühe, ihre beiden blondgelockten Model-Kinder zu bespaßen, eine etwas weniger Definierte wechselt ihre Körperfarbe gerade von weiß auf kaminrot. Eine Kleinfamilie robbt mit ihrem kleinteiligen Strandgepäck dem Schatten hinterher. Kaum sitzt sie, geht die Packerei schon wieder von vorne los. Herrlich, diese weltweit gleichen Sommerszenen! Ich liege auf drei größeren Steinen verteilt und versuche mich lässig zu finden. Aber eigentlich schmerzt es hauptsächlich. Ich wechsle auf eine Holzbank neben der Strandbar; jetzt liege ich immerhin auf geradem harten Untergrund. Das junge Paar auf der Nachbarbank redet in dieser Zeit, vielleicht eine halbe Stunde, kein einziges Wort. Sie hat ein dickes Schmökerbuch vor der Nase, er versucht, nicht allzu gelangweilt in die Gegend zu schauen. Alleinreisen müsste man können, wäre für diese Szene ein sehr schöner Untertitel.
Endlich kommen Claus und Joachim an meiner Holzbank an. Die Wiedersehensfreude ist groß, doch die Ernüchterung kommt schnell: die Strandbar ist ganz neu und hat weder Kugeleis noch Kuchenauswahl. Meine beiden Gäste sind enttäuscht, ich kann es deutlich spüren, arrangieren sich aber mit der Alternative: zum Kaffee gibt es jetzt Radler aus Dosenbier und Sprite. Etwas hat sich verändert zwischen uns. Es hat sich nur ganz leicht verschoben, aber es ist anders: Wir sind hier nicht mehr in diesem perfekten Moment von Vorgestern. Wir erzählen uns schon jetzt davon, als wäre es lange her. Am Ende kaufen wir sogar den Schnaps, der an diesem Abend herumgereicht wurde, vielleicht jeder in der Hoffnung, sich diese Stimmung noch einmal herbeitrinken zu können.
Wir beschließen bald, gemeinsam zurück in die Stadt laufen. Das geht erstaunlich schnell, obwohl bergauf und mit heterogenem Fitness-Level. Zur Belohnung bekommen die beiden ihre Kugeleise. Dann heißt es schon wieder Abschiednehmen. Doch finden wir nur zwei Taxinummern im Internet; bei der einen geht keiner ran und das andere Auto ist gerade an die Küste unterwegs. Schließlich muss ein Nachbar ran und die beiden zurück in ihr Paradies bringen. Sie kommen nur eine Stunde zu spät und schaffen es noch zum hausgemachten Drei-Gänge-Menü. Ich trinke ein weiteres Dosenbier und esse das letzte Stück Pizza, das ich aus der Alufolie in meinem Rucksack kratze. Es schmeckt nach kaltem Fisch und etwas Wehmut. Ich schleiche am Hostel-Empfang vorbei, gerade ist der Restaurantbesitzer von gestern da, heute darf er rein. Und wieder schläft niemand außer mir in meinem Zimmer, ich freue mich und überlege, warum ich eigentlich ein Hostelzimmer gebucht habe. Den Grund dafür werde ich aber noch erfahren, später auf meiner Wanderung. Als die Glocke am nächsten Morgen sieben Uhr brüllt, habe ich schon gepackt und bin bereit fürs nächste Abenteuer.
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