This is the very End

Der bisher unvollendete vierte Teil meiner Wander-Trilogie. Vom Abschweifen und Annähern an vergangene Gefühle.

Vielleicht erinnert ihr euch noch: Im Juli 2022 war ich auf einer Berg- und Talwanderung mit mir selbst. Motiviert von überdurchschnittlicher Fitness und geistiger Freiheit verfasste ich direkt nach meiner Reise durch Slowenien einen Bericht. Die ersten drei Teile schrieben sich quasi von selbst, ich musste nur meine Notizen mit meinem Erinnerungen kreuzen und konnte lebhaft beschreiben, was ich gesehen und wie ich mich dabei gefühlt hatte. Je schräger die erlebten Momente, desto unterhaltsamer ließen sie sich erzählen. Diese Aufarbeitung verlängerte meine Sabbatical-Zeit noch einmal angenehm ins Kreative. 

Meine Wander-Trilogie endete allerdings mit folgendem Satz: „Als die Glocke am nächsten Morgen sieben Uhr brüllt, habe ich schon gepackt und bin bereit fürs nächste Abenteuer.“ Ein echter Cliffhanger. Vor allem für mich selbst. Wochenlang baumelte ich an dieser Steilvorlage und überlegte, was mir noch zu sagen bleibt. Soll ich noch ein weiteres Mal übers Allein- und Mitgenommensein philosophieren? Noch eine Begegnung auseinandernehmen, mit Menschen, die nicht ganz so souverän mit dem anderen Geschlecht kommunizieren können? Langweilig! Ich hatte keine Idee, wie ich diesen Reisebericht erfolgreich zu Ende bringen könnte. Und das hatte einen Grund. Denn längst war ich wieder eingebunden in das, was unweigerlich nach einem Sabbatical kommt und das merkte man diesem Text leider nur allzu deutlich an: Ich hatte meine leichte Urlaubssprache verloren und sie gegen eine rationalere Alltagssprache eingetauscht. Ich war plötzlich nicht mehr in der Lage, unterhaltsam von meiner Reise zu berichten. Also ließ ich es bleiben.

Und jetzt? Warum soll ich zweieinhalb Jahre später für diese Geschichte die richtigen Worte finden? Das damals so intensiv Erlebte ist längst zu ein paar geschliffenen Anekdoten verkommen. Wenn jemand fragt, wie es war, rattere ich los wie ein Dia-Projektor mit den immer gleichen Urlaubsmotiven. Doch etwas zu beenden kann befreiend sein, das weiß jeder, der schon mal aus einer unglücklichen Beziehung ausgetreten ist. Darin hatte ich früh Übung, aber in anderen Beziehungen musste ich noch viel lernen. Ich habe zum Beispiel eine dreijährige Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau abgeschlossen, obwohl ich von Anfang an wusste, dass ich in keinem Reisebüro der Welt arbeiten wollte. Aber der Teil mit dem Reisen war super. Direkt nach meiner Abschlussprüfung meldete ich mich zum Studium an. Mit sechs Wartesemestern brauchte ich immerhin nur noch zwei Semester, um mein Numerus Clausus-Fach studieren zu dürfen. Ich flog gleich durch die erste Prüfung und landete noch mehrmals schmerzhaft in der Kluft meiner von mir vermuteten und den von meinen Lehrkräften wahrgenommenen Fähigkeiten. Aber ich schloss auch dieses Studium ab. Allerdings nahm ich mir dafür so viel Zeit, dass einer meiner Professoren meinte, ich würde wohl die letzte meines Studiengangs sein, die ihren Abschluss erhält. Ich empfand es als Kompliment, hatte ich doch währenddessen viel von der Welt gesehen. Die allerletzte meines Studiengangs wurde ich trotzdem nicht. Kurz nach meinem Abschluss starb der Weissagungsprofessor mit 65 Jahren an Herzversagen, da war er kaum vier Monate in Rente.

Meine Erkenntnis daraus passt in wirklich jeden Sprüchekalender: Gelebt wird niemals morgen. Natürlich habe ich das auf dem Weg immer mal wieder vergessen. Wie oft steckte ich tief im Nochzuerledigen oder suhlte mich im Nichtmehrzuschaffen? Ich begab mich also auf diese Wanderung, um wieder mehr Jetzt zu spüren. Wir befinden uns im Sommer 2022. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass dieser Single-Wanderurlaub ein Zufall war, geplant als gemeinsames Erlebnis mit einem Freund. Seit ein paar Jahren ist der leidenschaftlicher Kletterer, irre Muskeln überall, Füße wie ein zu groß geratener Hobbit. Er hat einen Bus ausgebaut und steht kurz davor, den Sommer im europäischen Süden zu verbringen. Klettern will er dort natürlich auch. Er sagt fürs Wandern zu, hat Lust auf ein leichtes Warm-Up. Der Arsch! Zur Strafe zieht vor unserer Reise sein Ischiasnerv so gemein an seinem Po und übers linke Bein, dass er nicht mitkommen kann. Erst in seinem Süden wird er herausfinden, dass er mit einem entzündeten Nerv zwar schlecht stehen, aber richtig gut lange laufen kann. Ich komme schnell darüber hinweg, ich habe eh schon Fahrkarten und Unterkünfte für mich alleine gebucht, vielleicht, weil mein eigener Ischiasnerv das irgendwie gespürt hat.

Besonders von den letzten Etappen meiner Wanderung brennen sich einige Motive ein. Wer wissen will, was vorher so passiert ist, der lese hierhier und hier nach. Wir sind jetzt im letzten Viertel. Mein emotionales Wandergepäck wird erfreulicherweise mit jedem gelaufenen Kilometer leichter. Ich vereinsame nicht mehr sofort, wenn ich ein paar Stunden keine Menschen sehe. Ich rede mit mir selber und deshalb nicht mehr zwanghaft mit jedem, dem ich begegne, ich werte das als echten Meilenstein meiner persönlichen Entwicklung. Ich bin im Fluss, wie man so sagt. Der reale Fluss, an dem ich seit Tagen entlang wandere, der wechselt kurz vor der Grenze zu Italien seinen Namen und das Geschlecht. Er ist jetzt männlich und immerhin so warm, dass ich zum ersten Mal Menschen sehe, die ohne Neoprenanzug darin baden gehen. In den Bergwindungen seiner weiblichen Version waren Bikinis und Badehosen so etwas wie hübsche Strand-Deko, jetzt werden sie auch mal ganz konventionell benutzt.

Außerhalb des Wassers steht das Thermometer stabil bei über 30 Grad Celsius. Nach meiner eigenen Bikini-Taufe versuche ich deshalb, soviel Frische wie möglich für die nächste Wanderetappe zu speichern. Ein paar köstliche Minuten sind das. Viele verschwitzte Stunden später komme ich erneut in einem Bergdörfchen an, in dem es genau ein Lokal gibt. Alle Gäste müssen da zum Abendessen hin. Ich ziehe meine Funktionsklamotten aus, lege sie wie immer einmal quer durchs Zimmer zum Lüften aus und ziehe mein Freizeit-Outfit an. Aber Löcher in den Jeans senden auch hier falsche Signale, ich empfange schon wieder mitleidige Blicke. Mein Abendessen muss ich trotzdem selber bezahlen. Ich esse mit einem liegenden Indianer im Rücken. Nicht meine Worte, so nennt mein Reiseführer den Hausberg, hinter dem sich gerade ein wirklich beeindruckendes Gewitter zusammenbraut. Ich sitze jedenfalls am Panoramafenster, hinter mir der Indianer, unbeeindruckt von den Blitzen, die jetzt in seine Nase einschlagen, da wird ein Schweizer Ehepaar an meinen Tisch gelotst. Ich hab die beiden auf dem Weg ein paar mal getroffen, dann aber eine Brücke überquert, die in ihrer App als gesperrt markiert war. Das erklärt, warum mich die Bauarbeiter so komisch angesehen haben, als ich über ihre Gerüste geklettert bin. Der Lohn für meine Dreistigkeit: eine Stunde Vorsprung oder eben eine Stunde länger am Ziel aufs Abendessen warten. Wir unterhalten uns eine Weile recht freundlich und landen schnell bei den Baseler Immobilienpreisen (Wahnsinnig teuer!) und den Erinnerungen des Paares an die Stadt, in der ich wohne (Wunderschön!). Ich bin müde und gehe nach einem Bier in meine Pension zurück. Ein ähnliches Skript wiederhole ich am zweiten Abend mit einem bayrischen Paar, nur, dass ich ein höfliches Bier länger durchhalte, weil die beiden auf einmal sehr gesprächig werden.

Am Morgen meiner letzten Wanderetappe läutet wieder eine Glocke ganz in der Nähe. Diese Kirchturmuhr ist schon die zweite, die eine Fantasiezeit angibt. Vielleicht schaut in unseren mobilen Zeiten einfach niemand mehr nach oben, um das zu bemerken. Hauptsache es bimmelt und macht munter! Egal, ich bin schon wach, denn heute habe ich Großes vor; heute besteige ich den Indianer. Tatsächlich erkennt man ihn ganz gut, wie er da liegt und seine Schönwetterwolken raucht. Noch steht die Sonne hinter seiner Nase, ich laufe los und überquere sie bis zum Mittag. Danach geht es mindestens zwei Stunden seinen langen Rücken runter. Jetzt leuchtet die Sonne unbarmherzig jeden Kilometer aus. Ich suche Abkühlung an den dubiosesten Orten – hinter einer stinkenden Mülltonne, im Schatten einer Ampel, auf einer schmalen Treppe, auf die ein Haus seine kühlenden Umrisse wirft. So langsam wird es städtisch um mich herum. Als ich endlich am Hostel ankomme ist alles zu, ich bin zu zeitig da. Eine Stimme am Telefon leitet mich zu einer Schlüsselbox, ich laufe durch ein leeres Haus, kann mir mein Bett aussuchen und die erste Dusche nach der Hausreinigung nehmen. Ich liege so lässig, wie später nur der Hausmeister, in der Hängematte im Garten, als die anderen Gäste eintrudeln. 

Jetzt kommen endlich auch mal Begegnungen mit Frauen in meinen Reisetexten vor. Da ist zum Beispiel Martina. Eine ruhige Endzwanzigerin, die schon seit Wochen meinen Fernwanderweg läuft, also ganz von Anfang an. Am Abend liegt sie gedankenverloren in der anderen Hängematte. Ein bisschen beneide ich sie dafür. Ich dagegen kenne schon das gesamte Personal und fast alle Gäste. Mein Kennenlern-Tourette hat wieder zugeschlagen, weil ich an einem Ort gelandet bin, wo scheinbar auch andere Menschen reden wollen. Es geht immer so los: Wie bist du unterwegs? Was hast du erlebt? Dann zieht man in den nächsten Gesprächs-Quickie oder findet den Weg in ein individuelleres Thema. Martina bleibt. Sie findet mich witzig und ich wüsste nicht, wieso ich ihr da widersprechen sollte. Wir laufen zum Aldi, der hier Hofer heißt, wir kaufen Dosenbier und setzen uns in den Schatten eines Kriegsdenkmals. Vor über 100 Jahren kämpften hier Italiener gegen Truppen aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Kaiserreich. Mein Weg ist voller Denkmäler, ich wandere auf einer ehemaligen Frontlinie. Irgendwie tröstet mich der Gedanke, dass hier jetzt ein Hostel steht, in dem so viele Nationen friedlich aufeinandertreffen. Bis zum Abendessen bin ich ziemlich angetrunken – die Hitze, nicht das Hofer-Bier. Wir beschließen bei Pizza und Gelato, in Martinas Stadt ein Hostel zu eröffnen.

Doch Hostels sind ein ganz spezielles Erlebnis, wenn man in Sachen Privatsphäre etwas empfindlicher ist. Im unteren Teil eines Doppelstockbetts in einem Sechsbettzimmer verfluche ich meine Sparsamkeit. Eine Motorrad-Gang hat ihre gesamte Lederkluft zum Lüften über ihre Bettlehnen verteilt. Dazu schnarcht ein Typ, irgendein Typ schnarcht ja immer. Beim Frühstück freut er sich darüber, dass in unserem Zimmer gar niemand geschnarcht hat. Er hinterlässt in meinen Wanderschuhen, die aus Fairness-Gründen vor dem Fenster übernachten mussten, eine freundliche Abschiedsnotiz. Wenn Menschen nicht gerade mit einem im selben Zimmer schlafen, sind sie meistens ganz okay. Ich trinke meinen Morgenkaffee und bin schnell wieder versöhnt mit dem Hostel-Konzept. Ich höre Martina zu, wie sie erzählt, dass sie in der Nacht Gewaltfantasien gegen Knoblauchesser und Schnarcher entwickelt hat und auf die Couch im Aufenthaltsraum flüchten musste. Wir planen unser eigenes Hostel um, es hat nun individuelle Schlafzimmer. Kurz darauf packt Martina ihren Rucksack und zieht weiter. Ich werde nie wieder etwas von ihr hören. Am nächsten Abend liege ich mit einer geruchs- und geräuschneutralen Österreicherin allein im Zimmer und kann mein Glück kaum fassen.

Und dann ist er vorbei, mein Wanderurlaub mit mir selbst. Es folgt eine vergleichsweise unspektakuläre Rückreise und diese wunderbar federleichten Tage danach, in denen man noch nicht ganz wieder angekommen ist, aber schon wieder Zeit mit seinen Liebsten verbringt. Kurz scheint alles möglich. Dann geht der Alltag einfach weiter. Heute, zweieinhalb Jahre später, denke ich an dieses Abenteuer zurück und bringe es so nun endgültig an sein Ende. Zwar nicht in diesem unbeschwerten Urlaubston, aber immerhin mit der Gewissheit, dass kleine Weltfluchten immer wieder möglich sind. Und, vor allem, dass sie nötig sind. Jedenfalls versuche ich, wann immer es geht, die Wanderschuhe anzuziehen und seien es nur die literarischen. 

4 Comments for “This is the very End”

Cornelia

says:

Sehr, sehr schön! Ich bin ganz schön wehmütig beim lesen geworden. Bitte mehr Texte, es macht einfach richtig Freude mit dir auf (Gedanken-)Reisen zu gehen.

Maria

says:

Sehr schöne Botschaft.

Ein Hostel mit individuellen Schlafräumen finde ich aus persönlicher Erfahrung super, Scheitert dann wahrscheinlich aber am Preis, weil, dann ist es ein Hotel.
Man kann wohl nie beides haben, Guten Schlaf und keine Geldsorgen.

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