Aufklärung ohne Plan
Zur Lesung in Dresden kommt Sarah Kuttner mit ihrem Strickstammtisch, aber ohne Jack Russell Terrier. Der Hund hat Lesungs-Burn-Out, zittert vor Abreise aus Berlin überzeugend genug, dass er nicht mit muss. Die Strick-Mädels dagegen erfreuen sich bester Gesundheit, kippen auf der Zugfahrt reichlich Prosecco und kichern über dies und das. Nach der Show wird Kuttner zuallererst pullern, dann eine rauchen und erst danach wird sie Bücher signieren. All das weiß man nach den ersten Minuten ihrer Lesung. Munter erzählt eine berufsjugendliche 33-Jährige von ihrem bisherigen Tag, der nicht so toll gewesen wäre, wofür das Publikum freilich nichts könne. Unterhaltsames Blabla, das einen ganz gut vorbereitet auf den Ton von „Wachstumsschmerz“, ihren zweiten Roman, der Ende 2011 im S. Fischer Verlag veröffentlicht wurde.
Denn „Wachstumsschmerz“ ist selbst wie ein endloses Selbstgespräch. Sie schreibt darüber, wie man sich fühlt, mit Anfang 30, wenn man zwar alt genug ist für so ziemlich alles, aber nicht weiß, wie man das in konstruktives Erwachsensein umsetzen soll. Ihre Protagonistin, Kuttner nennt sie Luise, beschließt trotzdem, ihre Freiheit irgendwo anzupflocken. Weniger, weil sie das selbst für die richtige Entscheidung hält, sondern weil man ja irgendwo anfangen muss mit dem Ernstmachen und es fürs Kinderkriegen wirklich noch zu früh sei. Die Herrenschneiderin zieht also mit Flo zusammen, einem freundlichen Assistenzmanager einer Kletterhalle, mit dem sie schon dreieinhalb Jahre zusammen ist, den sie liebt und mit dem sie die gleiche Lebensgeschwindigkeit teilt. Sie finden eine Wohnung, sie ziehen ein, und irgendwann später gehen sie wieder auseinander.
Die überschaubare Handlung ist durchpflügt von den Zweifeln Luises, die erkennen muss, dass das Partyjahrzehnt hinter ihr liegt. Was nach dem „Buffet der Chancen“ kommt ist der „Kater in der ersten Hälfte des Lebens“, in Form der Gewissheit, dass dieses ab jetzt von Entscheidungen und Konsequenzen bestimmt sein wird. Das Problem an diesem Buch ist nicht, dass es schlecht geschrieben oder dass das behandelte Thema aus der Luft gegriffen wäre. Noch nicht einmal die Präsentation ist übel. Kuttner versteht sich auf den an sich selber hochschraubenden und manchmal fast schizophrenen Monolog, wie sie auch in den vielen kleinen Lesepausen beweist.
Das grundsätzliche Problem dieses Buches ist, dass da nichts ist, was man nicht kennt. Nichts. Alles schon selber so oder so ähnlich erlebt. Warum soll ich ein Buch lesen, das mein eigenes Leben spiegelt, ohne die Frage zu stellen, warum es das tut? Wer Anfang dreißig ist, in einer WG lebt und immer noch nicht so richtig weiß, wo er in zehn Jahren stehen will, der braucht dieses Buch wirklich nur zu lesen, wenn er seine funktionalen Unzulänglichkeiten noch einmal von einer unzulänglich Funktionierenden widergekäut haben will.
Trotzdem ist der große Kinosaal, vor dem Sarah Kuttner gerade liest, gefüllt mit Quarterlife-Crisis-fähigen Frauen. Ein paar Männerköpfe trennen die Tuschelgruppen voneinander. Am Rand des Saales sitzt ein älterer Herr, vermutlich schon um die 60. Der lehnt sich zu mir rüber und erklärt unaufgefordert, dass er alle Bücher von Sarah Kuttner gelesen hätte. Bis dato sind das ein Kolumnensammelband und ein erster Roman. Er fände es interessant, sich mit seinen Kindern darüber zu unterhalten. Der alte Mann lacht viel und ab und zu sogar ganz herzlich während der Veranstaltung, und nach der sich anschließenden Fragerunde über so dies und das zieht er das Fazit, dass es sich gelohnt hat, heute hierherzukommen. Für ihn leiste Kuttner nämlich Aufklärungsarbeit. Sie mache ihn anschlussfähig an seine Nachfolgegeneration. Das ist eine vermutlich bislang unterschätzte Leistung der Autorin, die sich während ihrer Lesung gefühlte zehn Mal in der Minute ihr Ponyhaar hinters Ohr zu klemmen versucht. Der Mann ist also zufrieden, verabschiedet sich höflich und geht aus dem Saal, kurz bevor sich die Nachfolgegeneration erhebt, in die Signier- oder Kloschlange einreiht oder Sarah Kuttner beim Rauchen Gesellschaft leistet.
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