Die drei Minuten im Licht
Erika* geht auf viele Konzerte. Doch nicht wegen der Musik. Sie kommt zum Jagen.
Erika* geht auf viele Konzerte. Doch nicht wegen der Musik. Sie kommt zum Jagen.
Die Tür des Ostpols ist noch verschlossen, als der junge Blues-Musiker mit seinem Gitarrenkoffer auf den Club zuläuft. Ihm entgegen stürmt eine Frau um die 50, mit mehreren Taschen bepackt, sichtlich erregt. Sie redet auf den Amerikaner ein, nutzt dabei viele deutsche und ein paar englische Vokabeln. Bald zückt sie ein hellgrünes A5-Schulheft mit einem Koala vorn drauf. Er versteht und schreibt mit kalten Fingern seine Widmung hinein: To Erika! Very nice to meet you. See you next time in Dresden. Dann signiert er seine Zeilen und die Frau namens Erika macht ein Foto von ihm. Nicht mit einem Smartphone, sondern mit einer in die Jahre gekommenen Kompaktkamera. Das Ganze dauert keine drei Minuten. Die Clubtür öffnet sich, der Musiker verschwindet dahinter. Und auch Erika zieht weiter. Sie hat, wofür sie gekommen ist: ihren ersten Schuss.
Sie lächelt. Das Autogramm zeigt seine Wirkung. Erika ist glücklich, weil sie pünktlich mit dem Künstler eingetroffen ist. Dieses Mal war sie schneller, war vor allen anderen Autogrammjägern der Stadt da. Ihre Planung hat sich ausgezahlt. Mit Bus und Bahn angereist kam sie dafür, sie wohnt ein ganzes Stück entfernt vom Ostpol und den Clubs der Neustadt. Oft ist sie viel zu früh da, manchmal zu spät, gelegentlich wird sie von den Veranstaltern abgewimmelt. Oder Konzerte, die sie sich aus Internetportalen, kostenlosen Zeitungen und Flyern zusammensucht, wurden in der Zwischenzeit abgesagt oder verschoben. Auch die Fotos der Musiker, die sie sich aus dem Internet zieht und häufig als Autogrammunterlage ausdruckt, helfen ihr nicht immer bei der Jagd: manchmal sind sie veraltet oder zu schlecht, um die Künstler im echten Leben wiederzuerkennen. Dann holt sie sich aus Versehen Autogramme von den Menschen, die um die Musiker herumschwirren. Das kickt offensichtlich auch.
Anderer Abend, selber Club. Erika wartet auf eine kanadische Indie-Band, in der Hand hält sie ein vom Bandposter abfotografiertes Bild. Sie arbeitet sich durch die ausliegenden Konzertflyer, sortiert die kommenden Jagdwochen. Wenn es richtig gut läuft, schafft sie fünf Konzerthäuser an einem Abend. Der Ostpol ist meist ihr erster Anlaufpunkt. Der Mann an der Kasse bietet ihr an, sich das Konzert umsonst anzusehen. Das geht nicht. Sie hat keine Zeit. Bald treffen die Musiker ein und noch bevor sie ihre Instrumente ablegen können hält Erika ihnen ihr Poster entgegen. Darauf landen auch die Unterschriften von den Musikern, die das Duo als Tourband begleiten. Sie werden an diesem Abend vor neun zahlenden Gästen spielen, sie sind zum ersten Mal überhaupt auf Europatournee. Es dürften ihre ersten deutschen Autogramme gewesen sein, möglicherweise die ersten auf diesem Kontinent. Erika macht jeden zum Star ihrer Sammelleidenschaft und bekommt so gleich mehrere Schüsse auf einmal. Gebündeltes Glück. Dann zieht sie weiter.
Früher, lange her ist das jetzt schon, da kommt Erika noch wegen der Musik zu einem Konzert. Doch am 2. Januar 1999 treten Costa Cordalis und seine beiden Kinder Lucas und Angeliki in einer Turnhalle auf der Bodenbacher Straße auf. Erika lässt sich von ihnen eine Autogrammkarte signieren, steht noch brav an und wartet, bis sie an der Reihe ist. Fortan geht sie oft in den Kulturpalast, zu Roland Kaiser, Andrea Berg, Matthias Reim und immer wieder zu den Cordalissen. Bei den Schlagerkonzerten lernt sie die Fangruppe kennen. Die anderen Autogrammjäger heißen Barbara, Evelyn oder Jens ̶ alle weit jenseits der 40 ̶ es werden ihre Sammelfreunde, mit denen sie oft gemeinsam loszieht, und für die sie ein Autogramm mitbringt, wenn sie mal nicht können.
Erika kann eigentlich immer. Sie will auch immer. Sie braucht fast jeden Abend einen neuen Schuss. Wie genau es dazu kam, kann sie nicht erklären. Es ist einfach ausgeufert und dann zu einer Sucht geworden. Bald geht sie nicht mehr nur abends zu Konzerten, sondern schon nachmittags auf Autogrammstunden. Es ärgert sie, wenn die Künstler dann keine Autogrammkarten dabei haben, sondern nur CDs anbieten, die Erika signieren lassen könnte. Sie will ja bloß ihre Unterschriften und nichts kaufen. Bald ist es ihr egal, was für Musik gespielt wird, Hauptsache, sie bekommt ein Autogramm vom Künstler. Womit er auf Tour geht, das kriegt Erika mittlerweile nur noch mit, wenn sie für ein Autogramm mal bis nach seinem Auftritt warten muss. Als Kollateralkonsum sozusagen.
Irgendwann reichen die Autogramme von Musikern nicht mehr. Es kommen Schauspieler, Politiker und andere Menschen des öffentlichen Lebens dazu, meist kennt sie sie aus dem Fernsehen. Winnetou zum Beispiel, also der aktuelle Schauspieler Nik Xhelilaj, der war vor kurzem im Dresdner Kempinski-Hotel, in der Karl May-Bar. Aber den hat sie verpasst, der Tag ist oft nicht lang genug für ihre Leidenschaft. Von der Fangruppe schaut sie sich ab, dass man sich Autogramme auch schicken lassen kann. Im Briefkasten des Alten Schlachthofs landen seit Jahren frankierte Umschläge, rückadressiert an: Erika. Nur wenige davon kommen zu ihr zurück. Für ein Autogramm von Robert Stadlober wirft sie einmal eine CD-Hülle in den Briefkasten des Societaetstheaters. Auch die sieht sie nie wieder – verschwendetes Drogenbeschaffungsmaterial.
Am sichersten ist es, wenn sie sich ihre Unterschriften persönlich abholt. Beim Stadtfest lohnt sich das richtig. Da steht sie dann am Seiteneingang neben den Bühnen und wartet auf Menschen, die wie Künstler aussehen. Auch beim Sempernopernball, dem jährlichen Großevent für die komplette Fangruppe, hat sie Stress, da laufen schließlich überall Autogrammoptionen herum. Ihr berühmtestes Autogramm? Ist von Klaus Wowereit. Ihre Freundin Barbara hat auch welche von Guido Westerwelle, weil sie den am liebsten mag. Aber der musste ja sterben. Die dämlichen Krankheiten, das Aus für jede Autogrammsammelleidenschaft.
Wieviele Autogramme Erika jetzt schon gesammelt hat weiß sie nicht. Hat nie nachgezählt. Sie hat jedenfalls genug, um Menschen nicht mehr gern in ihre Wohnung zu lassen. Weil die dann über die Berge von Fotos steigen müssten. Das ist ihr nicht unangenehm, aber sie hat Angst, die könnten etwas durcheinanderbringen. Denn es gibt ja neben den Stapeln mit unterschriebenen Autogrammkarten auch die mit den noch nicht unterschriebenen. Erika selbst verliert langsam die Übersicht, schließlich kommt fast jeden Tag mehr Arbeitsmaterial hinzu. Wenn sich der Heizungsableser ankündigt bedeutet das für sie eine mittlere Katastrophe, die sie versucht irgendwie zu verhindern.
Erikas Sammelaktivitäten vertragen sich auch nicht so gut mit ihren familiären Verpflichtungen. Geburtstage sind für sie das Schlimmste. Es sei denn, sie beginnen schon mittags und sind nachmittags zu Ende. Ihre Mutter feiert aber nun einmal gern abends und hat im November Geburtstag – im besten Konzertmonat. Erika entscheidet sich im Zweifelsfall immer für den Club. Jeder Betreiber kennt sie, manche rollen mit den Augen, wenn sie eine ihrer selbstgebastelten Autogrammkarten zückt. Doch sie lässt sich nicht abwimmeln. Sie gehört zu dieser Welt, vielleicht mehr, als dass sie irgendwo anders dazugehört. In dieser Welt ist sie für ein paar Minuten sichtbar.
*Erika ist nicht ihr richtiger Name. Die Person, die sich dahinter verbirgt, möchte anonym bleiben.
2 Comments for “Die drei Minuten im Licht”
Jetpilotin
says:Schöne Geschichte über Erika
Erik*
says:Haste wunderschön geschrieben!