Vergesst Tinder, fahrt Bahn!
Wer in den letzten Monaten einmal etwas länger mit dem Zug unterwegs war, braucht eigentlich keinen Urlaub mehr. Eine Lobrede auf das Unplanbare!
Mit dem Auto in den Urlaub, das kann fast jeder. Zugfahren dagegen, das musst du wirklich wollen. Zuerst einmal musst du dafür deine innere Effizienz komplett ausschalten. Irgendwie, irgendwo, irgendwann wird deine Reisehymne. Eine Fahrt durch die spektakulären Einfälle der Bahn ist etwas, das dir in Erinnerung bleibt. Den Rest erledigen die Mitreisenden.
Nun ist Deutsche Bahn-Bashing natürlich wahnsinnig langweilig, weil da ja jeder schon mal drauf gehauen hat. Auf diesen Bummelzug möchte ich heute also gar nicht aufspringen. Obwohl, lustig ist es schon, dass nur Deutsche denken, dass die Deutsche Bahn unpünktlich ist. Im Ausland nimmt man an, dass bei uns die Züge niemals Verspätung haben, weil ja Deutsche auch niemals zu spät kommen.
Deshalb beginnt meine Erzählung mit einem Zug, der kaum Verspätung hat – ein Pünktlichkeitsfanatiker müsste nur zehn Minuten Verspätung wegatmen. Eine angenehme Kaffee-Croissant-Länge. Ich warte auf einen Railjet, der von Dresden über Tschechien, Polen, die Slowakei und Österreich nach Slowenien fahren wird – auf dem schnellsten Weg also. Der Railjet ist etwas aus der Zeit gefallen mit seinen dunklen Farben, den quietschenden Türen und dem freundlichen Bord-Personal, das Wasser an die Fahrgäste verteilt. Weil, es ist heiß, auch schon morgens. Die Klimaanlage ist so niedrig eingestellt, dass bloß niemand auf die Idee kommt zu schwitzen. Das wäre ganz schlecht für die alten Ledersitze.
Ich hab einen Platz reserviert, denn ich bin Deutsche und die Reise ist, auch schon auf dem Papier: lang. Doch auf meinem Platz schläft ein Mann, mit dem Kopf auf meinem Tisch, Kopfhörern auf seinen Ohren und einem kleinen Hund neben seinem Kopf auf meinem Tisch. Ich setze mich eine Bank weiter. Habe erste Klasse gebucht – ich bin Deutsche UND ein Luxus-Girl – das kommt im Railjet wohl nicht so oft vor, im ganzen Abteil gibt es nur sechs, sehr gut verteilte Plätze. Aus der Ferne sehe ich den Hund gerade noch, nehme meinen neuen Platz ein und: stelle fest, dass die Tür, an der ich jetzt sitze, zu den quietschenden gehört und zwar nicht nur, wenn sie geöffnet wird, sondern wenn sich der Zug bewegt. Ich wechsle in die Business-Class. Da gibt es auch mehr Plätze. Es ist noch zwei Grad kälter, die Leute tragen ja schließlich Anzug und Blazer, durch die sie abgekühlt werden müssen.
Ich bekomme noch ein Wasser in die Hand gedrückt und rase an der Sächsischen Schweiz vorbei, später dann an Prag, Brünn und Bratislava. Die Orte ziehen Sichtfäden. Im schönen Gegensatz dazu bleiben wir immer mal wieder irgendwo in der Landschaft stehen. Ich lausche den Lautsprecherdurchsagen wie einem meditativen Podcast, warum wir gerade mal wieder halten; meistens gibt es einfach wichtigere Züge als meinen, manchmal ist etwas defekt. Irgendwann komme ich trotzdem mit all den gut gekühlten Geschäftsmenschen in Wien an. Der Bahn-Service verschickt derweil entschuldigende Verspätungsmeldungen per Mail – bis zum Tagesziel werde ich vier neue Nachrichten in meinem Postfach haben.
Auf dem Wiener Hauptbahnhof versuche ich meinen Anschlusszug zu erreichen. Der sehr hilfsbereite Schaffner, der gerade dafür gesorgt hat, dass ein paar seiner Fahrgäste mithilfe eines Taxis den Flughafen noch rechtzeitig erreichen, lächelt milde und wünscht mir viel Glück, es sei ja schließlich Freitag. Aber was für ein Glück ich habe! Der Anschlusszug hat auch Verspätung! Sehr große sogar, so dass ich ihn nicht nur kriege, sondern wieder warten muss. Die Fahrgäste sammeln sich auf dem Bahnsteig, es ist noch heißer und wir spielen das Vampir-Spiel: Wann immer ein Körperteil droht, aus dem Bahngleisdachschatten in die Sonne zu rutschen, wird es panisch zurückgezogen und neu sortiert – wir wandern mit dem Schatten oder bilden eine sehr schlecht lesbare Sonnenuhr.
Schließlich kommt der Zug. Ich kann dieses Mal sogar meinen Sitzplatz einnehmen, umringt von einer wortkargen Digital Nativa mit einem Handy vorm Gesicht und drei sperrigen Koffern, die sie versucht, in einem vollen Abteil ohne Gepäckraum zu verstauen. Also stehen sie einfach im Weg herum. Daneben sortiert sich eine Mutter ein, mit ihren beiden Kindern und den jeweils dazugehörigen Mini-Fernsehern. Weil die alle mit sich selbst beschäftigt sind und auf einmal malerische Berge vorm Fenster vorbeifahren, wechsle ich auf den Gang und frage den Schaffner, der in seiner kleinen Schaffnerkajüte sitzt, welches Gebirge das denn ist. Er muss im Fahrplan nachsehen – es ist der Semmering, ein Gebirgspass zwischen Niederösterreich und der Steiermark – und dann kommt er sehr schnell selbst in Fahrt. Er erzählt von den abwechslungsreichen Strecken, die sein Job so mit sich bringt, den allgemeinen Arbeitsbedingungen bei der Österreichischen Bundesbahn, richtig spannendes Schaffner-Material eben. Dann stichelt er noch ein bisschen gegen die Schweizer Bundesbahn – Bombardier lieferte zuletzt nur die Hälfte der versprochenen Triebwägen, deswegen haben die Schweizer jetzt auch Zugprobleme, aber bitte, keinem weitersagen, das sind Interna. Zu den Interna reicht er leckere, gefüllte Orangen-Plätzchen und die freundliche Durchsage, dass er gerade keine Freundin hat. Während ich noch überlege, wie wohl unsere gemeinsamen Stunden aussehen könnten, ob sein Zuhause auch so schön klimatisiert ist und solche Licht-Schatten-Momente wie diese Bergtunnelfahrt bereithält, da landen wir auch schon an der Grenze zu Slowenien, wo mein Schaffner sein Herz zügig auf Feierabend umprogrammiert und seine kleine Flirtzelle und damit auch mich verlässt.
Mein Podcast bittet die verbleibenden Fahrgäste außerfahrplanmäßig, den Zug zu wechseln. Doch auf dem anderen Gleis steht gar kein Zug. Also warten wir wieder. Praktischerweise hat die Sonne jetzt kaum noch Strahlkraft und so stehen wir einfach nur so dumm herum, ohne uns zu verstecken, und warten auf einen Zug, der uns nach Slowenien fährt. Die Digital Nativa wird langsam gesprächig und erzählt von ihrem Leben in London, fern ihrer slowenischen Tochter, zu deren Geburtstag sie anreist und nach deren Wunschliste sie die Koffer gepackt hat, die sie kaum zu transportieren vermag. In den letzten Zug zum Tagesziel reingeklettert, muss sie noch loswerden, dass der Kundenservice in Slowenien katastrophal sei. Das Land selber sei toll, 60 Prozent Wälder und Seen und so, aber wenn man jemanden fragt, ob man einen bestimmten Bus noch schafft, dann hätte man keine Chance. Für Osteuropäer, so ergänzt sie beinahe kulturwissenschaftlich, wäre das nicht schlimm, sie würden es ja nicht anders kennen. Aber für jemanden wie sie, der die englische Höflichkeit zu schätzen gelernt habe, in der jeder Satz mit “My love” begänne, für den sei dieses Land nichts mehr. Sie wird in Maribor von ihrem Bruder abgeholt, ich helfe ihr und ihren Bestechungskoffern aus dem Zug, dann fährt sie die letzten Kilometer zu ihrer zurückgelassenen Familie mit dem Auto.
Alleine in meinem Abteil denke ich gerade, dass ich diese Begegnungen unbedingt aufschreiben muss. Da treffe ich auf Jack. Jack ist ein leicht nervöser Mann aus Zagreb, der von seiner Reise mit zwei vollen Plastiktüten heimkehren wird. Nach ein paar ausgetauschten Sätzen spielen wir das Altersspiel. Jack ist heute schon der zweite, der unaufgefordert meine Jahresringe schätzen möchte. Er untertreibt etwas weniger als der Orangen-Plätzchen-Schaffner, dafür ergänzt er “attraktiv” und “besser, als die ganz jungen Frauen”. Ich als nicht mehr ganz junge Frau nehme es hin, es ist schon spät, es sollte vermutlich ein Kompliment werden, von einem Mann, der noch deutlicher nicht mehr ganz jung ist. Wer einen Ehemann aus einer vergangenen Ära sucht, der reise einfach mal alleine durch Europa.
Als wir erneut und schon ganz kurz hinterm Bahnhof stehenbleiben, witzele ich, dass wir bestimmt einfach abgehängt wurden und der Rest des Zuges jetzt ohne uns in den Sonnenuntergang fährt. Als ich das Abteil verlasse und nach vorn ins nächste wechseln will, ist da keins mehr. Tatsächlich, man hat uns abgekoppelt und stehengelassen! Aus dem Spalt heraus rufen wir einen Gleisarbeiter, und fragen, was denn da los sei. Er reagiert gelassen, aber nicht unfreundlich: die Lok sei beschädigt und dass da gleich eine neue komme. Ich habe also Quality Time mit meinem neuen Verehrer dazugewonnen. Er entpuppt sich aber leider als zu ängstlich. Er schaut auf mein Loch in der ausgetragenen Jeans und fragt, ob ich mich verletzt hätte. Bewundert mich, weil ich ganz allein herumreise, obwohl er ja scheinbar auch allein reist. Um nicht untätig zu warten, informiere ich die anderen Mitreisenden, die ebenso besorgt dreinschauen wie Jack, was gerade passiert ist. Ganz Alltäglich kann dieses Erlebnis nicht sein. Keine Stunde später kommt tatsächlich der versprochene Triebwagen rückwärts an unseren Waggon herangefahren. Tut tuut tuuut! Die Schweizer, die von Bombardier um ihre Loks betrogen wurden, sie sind jetzt sicher sehr neidisch.
Nur 17 Stunden nach Beginn meiner Zugreise erreiche ich mein Tagesziel. In einem mit deutschen Firmen nachgebauten slowenischen Einkaufspark – Grüße gehen raus an Takko, Deichmann und kik – ergoogle ich mir mein “Grand Hotel”. Die Studentin am Tresen war vorhin am Telefon so freundlich, auf meine mitternächtliche Ankunft zu warten und erklärt mir nun, dass ich statt eines Einzelzimmers ein Doppelzimmer bekomme. Auf meine Frage, ob ich mir das mit jemandem teile muss, lacht sie nur. Ich mag den slowenischen Service, auch wenn ich ihn erst seit ein paar Stunden kenne. Er ist auf jeden Fall weniger vorhersehbar als der, sagen wir, deutsche oder englische. Über meinem Bett hängt ein sehr großes Bild. Darauf eine nackte Frau mit Haaren bis zu den Knien, am Strand, ihr Blick geht ins Esoterische. Ich schnalle meinen Rucksack ab und falle unter ihrer Grazie und zu den Klängen einer energiefressenden Klimaanlage in den Schlaf. Kurz bevor ich wegnicke, versuche ich mir auszumalen, was wohl morgen passieren wird. Schließlich bin ich dann nochmal einen halben Tag in Bus und Bahn unterwegs, bevor mein Wanderurlaub beginnt. Aber kann es noch besser werden? Eine Mücke sticht mir in den Fuß, ich werte es als ein gutes Zeichen.
3 Comments for “Vergesst Tinder, fahrt Bahn!”
Joachim
says:Hi Juliane,
das ist wunderbar geschrieben und sehr unterhaltsam. Schöner leichter Erzählstil. Intelligent und humorvoll. Spannend mit dem immer wieder Fäden aufnehmen. Du schreibst wirklich anders wie du sprichst, aber vielleicht ist das ja immer so. Bin ganz überrascht und auch etwas beeindruckt.
Da würde ich mich freuen, weiter lesen zu dürfen. Mit etwas Angst, solltest du auch über Claus und mich schreiben. Und auch gespannt. Denn du siehst mit ganz anderen Augen in die Welt denn ich oder sonstige Menschen, welche ich kenne.
Bist du schon wieder Zuhause?
Liebe Grüße und danke für dein Vertrauen, mit 2 fremden Männern aus einer vergangenen Ära zu saunieren.
Danke den Kontakt
Joachim
Katja
says:In Medien in denen ich sonst verkehre gibt es ein „Gefällt mir“ oder ein “<3". Für dich hier und jetzt ein „großartig" und „sehr amüsant“. Ich will direkt losfahren!
nicolle
says:sehr, sehr cool!