Welcome to your Work-Life-Challenge!
Wir leben, um etwas zu erreichen. Aber was, wenn da eine Grenze ist, auf die wir stoßen, bevor wir finden, was wir glauben zu suchen? Ein theatraler Belastungstext.
Wir Menschen sind für nichts Extremes gemacht: kein Fell, keine scharfen Zähne, keine schnellen Beine. Wir leiden an Knochenschwund, Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, Krebsrisiko und Allergien. Die Weisheitszähne passen heute nicht mehr in unseren Mund, denn unser Kiefer hat sich stark zurückgebildet, weil wir keine Beute mehr reißen und zerkleinern müssen. Und wogegen hat die Evolution das alles eingetauscht? Gegen ein größeres Gehirn. Das soll uns trotz all dieser Defizite ein langes und möglichst bequemes Leben ermöglichen.
Dieses tolle große Gehirn hat uns auch den technischen Fortschritt erdacht – Fließbandarbeit, Atomenergie, digitale Medien – und damit jede Menge Optionen, unseren bequemen Lebensentwurf wahlweise zu erhalten oder zu torpedieren. Gern auch beides gleichzeitig. Wir schlafen mit unserem Handy in Reichweite, wir wachen morgens auf und können noch im Bett unsere Mails checken. Alles ist furchtbar praktisch geworden. Wir können Dinge, die früher Wochen gedauert haben, zum Teil in wenigen Minuten erledigen. Das spart Zeit. Zeit, die wir sofort für die nächste Aufgabe nutzen können, die ebenfalls früher viel länger gedauert hätte und damit ironischerweise viel Freizeit geschaffen hätte.
Wir werden also immer effektiver. Effizienz ist der neue Standard; daran wird gemessen, wer ins System passt und wer eher nicht. Wir funktionieren und die Welt um uns herum ebenso. Das hat leider unangenehme Nebenwirkungen. Wir teilen den Tag in immer kleinere Schaffenseinheiten ein. Wir sind gestresst. Wir fühlen den Druck, alles erreichen zu müssen, weil ja alles machbar scheint. Wir ticken relativ schnell aus, wenn etwas nicht klappt. Die Facebook-Seite wurde über Nacht mit neuen Features ausgestattet? Schlimm! Der Brokkoli ist schon wieder nach zwei Tagen im Kühlschrank verschimmelt? Sinnlos teurer Biofraß! Und dann noch ein Radfahrer, der einfach fährt wie er will… Steile These deshalb: Unser Toleranzbereich für Kleinigkeiten, die im Alltag nicht funktionieren, hat sich in den letzten 50 Jahren, also ungefähr seit der Entwicklung des E-Mail-Versandes, drastisch verringert. Und was für Dinge gilt, gilt letztlich auch für uns Menschen.
Menschen und Dinge dürfen keine Fehler mehr machen. Wenn etwas schiefgeht, dann hat jemand Schuld und dieser Schuldige muss gefunden und, besser noch, er muss bestraft werden. Meistens verliert er oder sie mindestens seinen oder ihren Job. Also funktionieren wir alle so gut es geht. Wir hoffen, dass wir alles richtig machen, oder dass es wenigstens nicht auffällt, wenn wir einen Fehler gemacht haben. Wir hängen uns nicht zu weit aus dem Fenster mit einer abweichenden Meinung, wir machen, was uns gesagt oder was von uns erwartet wird, wir wollen irgendwie durchkommen ohne auf dem Weg zusammenzubrechen. Das geht leider nicht immer gut. Die Carolabrücke zum Beispiel, die hat es nicht geschafft. Oder Kevin Kühnert. Beide quittierten ihren Job, weil sie zu lange ohne Pause funktioniert haben. Während aber eine Erholungsphase die Carolabrücke vermutlich nicht vorm Einsturz bewahrt hätte, wäre ein Spitzenpolitiker dadurch möglicherweise dem Burn-Out entkommen. Immerhin hat Kühnert die Notbremse gezogen.
Immer öfter wollen Menschen allerdings, wenn sie erst einmal raus aus dem Stresskreislauf sind, gar nicht wieder hinein. Wollen nicht mehr funktionieren. Auf der Suche nach der Life-Work-Balance finden sie nämlich häufig heraus, dass Life ohne Work viel lebenswerter ist, es aber leider nur selten gelingt, ohne Arbeit gut zu leben. Also muss der Job aufgewertet werden, damit er sich weniger nach Geldverdienen anfühlt und mehr nach Lebensaufgabe. Das gelingt am Fließband deutlich schlechter als am Macbook. Vermutlich denken Arbeiterinnen in Schlachtbetrieben auch seltener an Sabbaticals und dafür häufiger an Säumniszuschläge. Belastungsgrenzen muss man sich also erst einmal leisten können. So geht ein weiterer Riss durch Deutschland – die einen leben Work-Life-Balance, die anderen Work-Life-Challenge.
Eine weitere Herausforderung liegt darin, die innere Balance zwar zu finden, sie aber nicht über alles andere zu stellen. Selbstliebe ist richtig und wichtig. Wer aber immer nur schaut, was seine eigenen Bedürfnisse machen, verliert schnell sein Gegenüber aus dem Blick. Das kann problematisch für uns als Gesellschaft sein, für deren Gelingen ein gewisser Zusammenhalt und Empathie notwendig sind. Wenn die heute so gut vermarktete Selfcare die Liebe zu unseren Mitmenschen überschattet, wird es dunkel im Miteinander. Außerdem bedeutet Balance nicht zwangsläufig, dass wir gut mit Belastungen umgehen können, ist es doch eher eine Flucht, ein Rückzug ins Private. Ja, aber was sollen wir denn sonst machen, um nicht am ständigen Disput auf der Arbeit, an der permanenten Überforderung durch Familie und Beruf oder einfach am Leid der Welt zu zerbrechen?
Ein häufig geäußerter Vorschlag: Mehr Resilienz üben! Wie schaffe ich es also, angemessen mit Herausforderungen umzugehen, ohne immer gleich ins innere Retreat einzuchecken? Beim Resilienz-Konzept geht es nicht darum, Konflikte zu vermeiden, sondern vielmehr darum, sie zielorientiert anzugehen. Wozu haben wir denn schließlich über Jahrtausende ein immer größeres Gehirn entwickelt? Einfach mal nach konstruktiven Lösungen suchen statt immer nur zu Meckern: Gemeinsam mit der anstrengendsten Kollegin Yoga im Büro machen zum Beispiel. Das ist doch mal ein angenehm kollektiver Gedanke. Dem kann man prima nachspüren, während man zuhause im Lotussitz auf einer Korknaturkautschukmatte meditiert – hilft beim Entspannen.
Unsere Gesellschaft muss sich also in Belastbarkeit üben. Klingt irgendwie auch schon wieder anstrengend. Und wie macht man sich überhaupt resilient gegen Krisen, Kriege und überzogene Karrierevorstellungen? Müssen wir uns den Nachrichten aussetzen, damit wir uns, wenn wir schon nichts tun können, wenigstens schlecht dabei fühlen? Wieviel müssen wir leisten, damit wir von unserem Umfeld als engagiert wahrgenommen werden? Warum haben wir Sorge, das alles könnte nicht reichen, wir müssten immer noch viel mehr tun? Warum will ein Teil von uns sich einfach in eine Ecke verkriechen und Serien in Endlosschleife schauen? Wir haben viele Fragen an unsere eigene Belastbarkeit, die wir mal mehr und mal weniger laut stellen. Ist Resilienz also vielleicht selbst ein Zustand, der nur in seine Kraft kommt, weil er manchmal eine Pause macht? Fühlen wir uns deshalb an manchen Tagen endlos belastbar und nur ein paar Wochen später unendlich belastet? Unser schwaches Ich schlurft dann selbstmitleidig durchs Zimmer und beneidet das starke, während das starke keine Zeit damit verschwendet, an das schwache zu denken, es hat ja viel zu tun. Vielleicht ist die Balance aus Schaffenskraft und Lethargie als Yin und Yang der eigenen Belastbarkeit zu verstehen.
Wir wollen zwar, aber wir sind nun mal nicht die perfekten Versionen von uns. Die meisten von uns sind keine Astronauten, Popstars oder Müllfahrer geworden, obwohl sie es als Kind mal vorhatten. Und später, als die Träume sich den eigenen Fähigkeiten etwas annäherten, blieben wir trotzdem unter unseren Möglichkeiten, weil das Leben/die Liebe/die Umstände (Zutreffendes bitte unterstreichen) dazwischenkamen. Also, ganz bestimmt hätte noch was Besseres aus uns werden können! Niemand sagt: Tja, für mehr hat’s bei mir leider nicht gereicht.
Und was machen wir mit dieser Erkenntnis? Wir nutzen sie, hallo Vermarktungsgesellschaft! Das eigene Scheitern zuzugeben ist längst ein Erfolgsrezept auf dem zweiten Karrieremarkt. Die eigene Belastungsgrenze thematisieren. Ich war drüben, ich weiß, wie es sich anfühlt, über meine Grenze gegangen zu sein. Depression, Burnout, Therapie, Buchvertrag. Negativ Erlebtes schafft eine Form der Authentizität, die gern in Szene gesetzt wird. Selbst Punkrocker reden heute über Mental Health. So viele Personen des öffentlichen Lebens thematisieren ihre psychischen Probleme, schreiben darüber, wie sie Wut und Verzweiflung in Selbstliebe und Perspektive verwandelten. Selbstverständlich hören wir nur von denen, deren Therapie erfolgreich war und die diese Liebe nun an all jene verkaufen können, die noch in der Wut und der Verzweiflung feststecken. Und das dürften die meisten von uns sein.
Überbelastung rührt auch längst nicht nur von der Arbeit, sondern von der für die meisten immer noch schönsten Sache der Welt: der Elternschaft. Wer mental gesund sein will, muss neben der physischen Belastung auch die damit oft einhergehende Mental Load bewältigen: die Last der alltäglichen, unsichtbaren Verantwortung für Haushalt, Familie, Beziehung und Beruf. Das trifft hauptsächlich Frauen, sagt die Statistik, denn nur 34 Prozent aller Väter nehmen Elternzeit und davon über 60 Prozent nie allein und hauptverantwortlich. Warum? Weil sie oft die Besserverdiener sind und weil die Frau ja nun schon mal das Kind geboren hat und jetzt quasi Expertin auf diesem Gebiet ist, nur leider ohne Diplom. Und frau hat gelernt, sich für die gute Stimmung verantwortlich zu fühlen. Mental Load ist eine psychologische Währung, mit der eben vor allem Mütter auf ein Konto einzahlen, von dem sie später tendenziell weniger echtes Geld abbuchen können. „Paare gehen gleichberechtigt in den Kreissaal und kommen als Paar der 1950er Jahre wieder heraus.” Etwas flapsig formulierte die Psychologin Patricia Cammarata dieses Paradoxon in der Gleichberechtigungsforschung, das selbst emanzipiertere Paare vor ganz praktische Herausforderungen in der Alltagsbewältigung stellt. Zu erwähnen wäre hier fairerweise noch, dass es Männer nicht grundsätzlich leichter haben. Heute wird von ihnen ja erwartet, dass sie einfühlsame Väter und verständnisvolle Partner sind, aber schon auch noch zum Lebensunterhalt beitragen. Und ja, es gibt auch Fälle, da verdient die Frau das Geld und der Mann hat die Mental Load am Hals. Statistisch betrachtet ist das allerdings die absolute Minderheit.
Sind die Belastungsgrenzen für Individuen deutlich spürbar, bleiben sie für ein Kollektiv oft sehr abstrakt. In der Einwanderungsdebatte zum Beispiel. Da geht der Trend schon seit längerem von „Wir schaffen das!“ Richtung „Es schafft uns!“, obwohl die wenigsten Menschen konkrete Berührungspunkte mit dem Einwanderungssystem haben dürften. Auf einmal sind sich große Teile der Bevölkerung und der Politik aber sicher: noch mehr Zuzug aus dem Ausland verkraften unsere Kommunen nicht, obwohl zurzeit viel weniger Menschen nach Deutschland kommen als beispielsweise im Jahr 2015, die Integrationsstrukturen mittlerweile aufgebaut wurden und besser funktionieren als oft medial vermittelt wird. Es sind dieselben Kommunen, denen jetzt schon massenhaft Arbeitskräfte in der Pflege oder in der medizinischen Versorgung fehlen. Natürlich kommen nicht alle Menschen mit diesen Kernkompetenzen nach Deutschland. Zudem schützt unsere Verfassung das Recht auf Asyl. Aber ein lösungsorientiertes System würde doch versuchen, diese potenzielle Arbeitskraft nutzbar zu machen, also Strukturen der Ausbildung und des Quereinstiegs zu schaffen, statt Grenzen zu schließen und perspektivisch dafür zu sorgen, dass arbeitsfähige Menschen in andere Länder abwandern. Was eine echte kollektive Belastungsgrenze ist, werden wir spätestens dann zu spüren bekommen, wenn wir selber pflegebedürftig werden. Hoffentlich ist die Robotertechnik dann schon weit genug.
Resilienz bewahren in schwierigen Zeiten – und wann nehmen wir die Zeiten mal nicht als schwierig wahr – das heißt vielleicht, vor lauter Alltag die große Frage danach, wie wir leben wollen, nicht aus den Augen zu verlieren. Die meisten Menschen werden darauf antworten: so weit von der Belastungsgrenze entfernt wie möglich. Niemand will enden wie die Carolabrücke. Aber wie viele von uns die Work-Life-Challenge gewinnen, hängt davon ab, wie stabil wir die einzelnen Brückenpfeiler unserer Zukunftsgesellschaft aufstellen. Was sind wir bereit zu geben, damit alle Menschen, die ihre Belastungsgrenze spüren, auch entsprechend handeln können, um nicht zusammenzubrechen? Mit einer verschlissenen Gesellschaft bekommt man eben nur das: kaputte Brücken. Und danach kaputte Menschen.
Unser tolles großes Gehirn schrumpft übrigens seit den letzten fünf Jahrtausenden wieder, zu convenient, zu bequem, ist unsere aktuelle Konsumwelt. Wir arbeiten also ganz effizient daran, dass wir wieder dümmer werden. Vielleicht wächst uns dann irgendwann wenigstens wieder ein dickes Fell.
Dieser Text entstand für die Performance “MAXIMALE TRAGLAST – Ein wildes Panoptikum an den Grenzen der Belastbarkeit” von Anne Peschken, Marek Pisarsky & Freunde des Socies, aufgeführt am 17. und 18. Januar 2025 im Societaetstheater Dresden, interpretiert von Iris Pickhard. Lektorat: Maria Funke
Foto: André Wirsig
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