Das große Rauschen

Meine Tage auf der Leipziger Buchmesse vergingen, ohne dass ich ein Buch gelesen oder gekauft habe. Oder mich auch nur auf die Literatur konzentrieren konnte.

Auf einmal sind da irre viele Menschen. Die einen mit Jutebeutel oder Rucksack, die anderen in aufwendigem Kostüm. Aber alle stehen sie auf diesem einen Bahnsteig und wollen in dieselbe S-Bahn. Das also ist der Schwarm. So beginnt jeder Tag der Leipziger Buchmesse, aber es ist mein erster und ich bin tatsächlich überrascht, dass außer mir noch andere Gäste mit der S-Bahn zum Messegelände wollen. Denn draußen, vorm Bahnhof, da waren doch schon so viele Messebesucher in der Straßenbahn. Ich hörte den Schaffner flehen, man möge doch bitte aus der Lichtschranke treten, sonst könne die Bahn nicht losfahren. Ich wähnte mich schlauer und schmunzelte überlegen. Jetzt stehe ich hier, mitten im Schwarm, und kann nicht vor noch zurück. Da geh ich sogar lieber in die Schule, ruft neben mir ein eingekeilter Jugendlicher. Ich überlege, was ich alles lieber täte, als hier festzustecken. Vier Bahnen später schaffen er und ich es gemeinsam in eine Bahn. Arielle passt mit ihrem ausladenden Reifrock nicht mehr in den Zug und bleibt traurig am Gleis zurück – ein platzsparender Fischschwanz wäre hilfreicher gewesen.

Am Ende der kurzen Zugfahrt schwappt der Schwarm aus der Bahn und beginnt sich zu verteilen. Manche von den Rucksackträgern mutieren auf der Toilette zu Fabelwesen, ich schaue mir diesen Zauberkugel-Trick eine Weile an, verschnaufe dabei und esse alles auf, was ich mir als Vorrat mitgenommen habe, auch, weil es meinen Rucksack leichter macht, den ich ja den Rest des Tages über die Messe tragen werde. Bestimmt zehn Jahre liegt mein letzter Besuch zurück. Waren es damals auch schon so viele Menschen? War die Messe schon so groß? War ich fitter? Über diesen Gedanken komme ich überraschend gut vorwärts. Tausende Besucher schaffen es offensichtlich, sich beim Gehen kaum zu berühren, obwohl wir in alle möglichen Richtungen strömen. Das beeindruckt mich. Sanft lasse ich mich in die Halle schieben, in der sich die unabhängigen Verlage präsentieren und freue mich, ein paar bekannte Gesichter zu sehen. Es ist doch immer das Gleiche: man bricht auf, um Abenteuer zu erleben, doch sobald sich etwas zum Dranfesthalten bietet, ergreift man es, als wäre man schon seit Tagen in der Wüste unterwegs. Bei mir ist es ein lauwarmer, schwarzer Kaffee im Pappbecher. Er macht mich glücklich und fit für die ersten literarischen Erkundungen.

Der Schwarm hat seinen Aggregatzustand verändert. Er ist zu einem Geräusch geworden, einem konstanten Rauschen, das sich nur schwer ausblenden lässt, wenn man es auf eine der Leseinseln geschafft hat. Auf einer gibt Lukas Bärfuss gerade Autogramme und lässt sich nur langsam vom Podium schieben, obwohl die aktuelle Ingeborg Bachmann-Preisgewinnern schon sitzt und sich mit der 3sat-Moderatorin abstimmt. Die Messetage sind in unbarmherzige 30-Minuten-Slots aufgeteilt, egal ob Superstar oder Newcomer. Nur an der Signierschlange kann man so lange stehen, wie man möchte. Ich treffe einen Dresdner Lyriker, er empfiehlt mir eine Toilette, die sauber sei und ohne Schlange davor. Welch’ kostbarer Buchmessetipp! Statt mich der Preisträgerin und ihrer “Korrektur der Realität” zu widmen – das ist, was sie auf die Frage antwortet, warum sie denn schreibe – lasse ich mich einfach weitertreiben. Ich sehe eine hochschwangere Feenmutti mit Mini-Fee im Kinderwagen – ein Doppeltraum in rosa Tüll. Ich erspähe einen Dresdner Moderator, der jetzt eben irgendwas in Leipzig moderiert, wie immer im bunten Anzug.

Jetzt muss was mit Substanz her, beschließe ich, und steuere auf die Lyrikinsel zu. Da gibt’s wenigstens Platz. Ein Schreibfehler im Verlagsnamen hinter dem Verleger und ein Dichter im orangefarbenen Pullover vor roter Rückwand lenken mich aber gleich wieder ab. Der Verleger spricht von der Angst vor Gedichten, weshalb das Buch seines Autors jetzt einfach als Roman verkauft wird. Der Autor sagt so schöne Sätze wie: “Die Reels, die beißen einen zurück.” Ha, jetzt hab ich mich doch aus Versehen auf den Text konzentriert! Aber da kommt auch schon die Ringdame, die ihr “Noch 5 Minuten”-Schild so lange hochhalten und bewegen muss, bis einer auf der Bühne sie wahrnimmt. Und dann ist es wieder da, das rauschende Meer um mich herum. Irgendwo darin schwimmt jetzt sicher Arielle, also zumindest, wenn sie es vom Bahnsteig weggeschafft hat. Auf einmal verjüngt sich das Publikum, ein Poetry Slam kündigt sich an. “Stille Wasser sind ohne Kohlensäure”. Ich klaue den Titel, verlasse die Insel und schwimme weiter. Bei Eugen Ruge strande ich. Er trägt einen schwarzen Schal mit BWLer Knoten über schwarzem Hemd und schwarzem Jackett. Er war 14 Tage in Pompeji und hat nun einen Roman über die letzten Jahre vorm Vulkanausbruch geschrieben, als – so sagt es Ruge – Gleichnis auf den friedlichen Anschluss oder die feindliche Übernahme der DDR durch die BRD (je nach Sichtweise). Später lerne ich, es geht im Buch auch um andere, aktuelle Apokalypsen.

Ein paar Stände weiter setzt sich Dirk von Lowtzow gerade auf die taz-Bühne. Vom Gespräch verstehe ich so gut wie nichts und finde, es ist das beste seit Langem. Wieder ein paar Stände weiter redet ein schwarzer Sachse von seinen Erfahrungen bei der Dresdner Polizei in den 1990er Jahren. Er redet von Enthauptungen, Rotlicht, seiner Sicherheitsfirma, von Raubüberfällen, Flucht nach Afrika, Bürgerkrieg im Kongo, Rückkehr, Knast. Jetzt ist er Bundeswehrberater und Flüchtlingsbegleiter. Krasse Geschichte, hab ich schon im Radio gehört, schaue mir das Gesicht dazu an und höre den Autor sagen, dass er jetzt zwei Heimaten habe – Dresden und Bonn. Zurück an der Lyrikbühne sitzen immer auffälliger die Rastenden neben den Interessierten. Die Erstgenannten ziehen bald weiter. Bleibt man eine Weile sitzen, wechselt sich fast das komplette Publikum aus. “Das Land ist flach, so dass ich über mich hinwegsehen kann” sagt ein Lyriker, “The owls are not what they seem” entgegnet eine Lyrikerin. Ein Österreicher liest von einer “blankrasierten Scheide” und “netten, kleinen Titten” und erfüllt so mein Klischee von der derben und zugleich bürgerlichen Sprache des Gastlandes.

Irgendwann stupst mich eine rothaarige Frau ans Bein. Sie sagt, sie heißt Elisabeth und innerhalb kürzester Zeit weiß ich über sie: liebt und schreibt viele Bücher über Kreta, hat in Ostfriesland einen Laden mit Wohlfühl-Kleidung und eine kleine Pension, in der ich übernachten kann, wenn ich mal vorbeikomme, ist geschieden und hat einen Freund im verflixten siebten Jahr. Ich hätte vermutlich bald auch ihre “Reise-Erzählung in 7 Teilen” aufgeschwatzt bekommen, wäre da nicht Clemens Meyer mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Eierschecke zu seinem Platz auf der mdr-Bühne gesprintet. Vor einem sehr farbenfrohen Bauwagen redet er über Christa Wolf, über die er ein ganzes Buch geschrieben hat und deren Bücher er auf der Baustelle früher schon mal hinter der BILD-Zeitung versteckt habe. Im Publikum wähnt er Leute, die Wolf noch persönlich kannten. Ich blicke mich um und denke, dass das stimmen könnte. Der Schwarm hat sich über den Tag zerstoben und auf die verschiedenen Hallen aufgeteilt. Hier tragen viele Menschen graue oder nur noch wenig Haare. Erst in der Glashalle vermischt es sich wieder. Doch etwas ist anders. Betraten die menschgewordenen Mangas die Messe heute Vormittag als glänzende Avatare ihrer selbst, hängen jetzt müde Skelette auf den Hallenböden und kippen Kaffee in sich hinein. Die spitzen Eckzähne werden rausgenommen, um Pommes zu essen. Energy-Drinks erfahren in den Händen müder Sternenkrieger endlich ihre wahre Bestimmung: Möge die Kraft des Taurins sie auch über die längste Foto-Session wachhalten!

Achtung! Stau an der Fitzek-Kreuzung, die Feen-Mutti von vorhin drängelt sich mit Buggy und Bauch vor und bekommt ihr Autogramm von einem dauerlächelnden Sebastian Fitzek außerhalb der endlosen Schlange. Das sollte man unbedingt als Vorteil auf der Pro/Con-Liste der Elternschaft verbuchen. Nach über zwei Stunden laufe ich wieder an seinem Stand vorbei und Fitzek gibt immer noch oder schon wieder Autogramme. Das toppt nur eine junge New-Adult- und Romantasy-Romancerin, die sich auf ihrer Webseite wie folgt vorstellt: “Ich bin Bianca und schreibe romantische, fantastische und spannende Geschichten. Ich liebe Bücher, Reisen, Kaffee, Schottland, Schokolade, bunten Nagellack und den Herbst. Hast du noch Fragen?” Also, ich habe keine mehr, außer vielleicht, wie man mit dermaßen durchschnittlichen Hobbys so erfolgreich werden kann. Später frage ich mich noch, wie Dennis Scheck über ihr Oevre geurteilt hätte, der auf seiner großen Bühne gerade ein Buch abstempelt: “Für so etwas wäre man früher geteert und gefedert worden, aber heute ist man da liberaler.” Es klingt fast ein wenig traurig. Dann lobt er den Buchpreisgewinner und nennt sein Deutschlandmärchen eine “quecksilbrig-mäandernd-fluide” Migrationsgeschichte, spricht anschließend seinen Verlag falsch aus, redet von Passion und Leipzig als Nicht-Automesse und knallt kurz darauf schon mit der Tür vom Backstage, dass der Container wackelt. Er muss weiter, High Noon für Literaturkritik ist immer irgendwo.

Gegen Ende aller Buchmessentage sind die längsten Schlangen immer die an den Damen-Toiletten. Hier wären genderneutrale oder von mir aus auch quecksilbrig-mäandernd-fluide Klos mal angebracht, es würde sicher vielen Frauen ein paar Krampfadern an den Beinen ersparen. Ich kaufe noch drei Postkarten bei den rechtschreibschwachen Buchkindern, damit ich wenigstens irgendwas habe, das ich in meinen leeren Rucksack stecken kann und lasse mich zurück zum Eingang schieben. Es dauert. Der Schwarm ist jetzt endgültig ausgelaugt, aus heldenhaften Cosplayern werden wieder verletzliche Jugendliche, mit wunden Satyrhufen und zerbrochenen Schwertern. Und aus mir wird nach diesen wilden Tagen in der Event-Literatur hoffentlich wieder eine schnöde Leserin.

2 Comments for “Das große Rauschen”

Juliane Hanka

says:

Arielle hab ich auf der Buchmesse nicht wieder gesehen. Ich vermute aber, auch sie hat sich in ihr menschliches Selbst zurückverwandelt. Nicht die schlechteste Hoffnung für sie, wie ich finde.

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